Das Lied des Todes
würde er überlegen. «Rund dreihundert», sagte er dann. Diese Zahl war natürlich arg untertrieben. Mittlerweile war er reich genug, um ein Heer zu bezahlen, das gut und gerne doppelt so groß sein würde.
«Dreihundert?», wiederholte Evurhard. Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Offenbar hatte er auf mehr Männer gehofft.
«Nun ja», meinte er dann, «zusammen mit den Soldaten der anderen Verschwörer können wir dann wohl ein Heer von vielleicht eintausend Mann gegen Otto führen.»
«Eintausend!», jubelte Thankmar. «Damit werden wir Ottos Heer überrennen!»
Seine vermeintlich vorbehaltlose Zustimmung zauberte Evurhard wieder ein Lächeln auf die Lippen. Wahrscheinlich hatte er mit Widerspruch und aufreibenden Diskussionen gerechnet.
Beschwingt schenkte sich Evurhard Wein nach, inzwischen wohl den vierten oder fünften Becher. Er leerte ihn in einem Zug, stellte ihn ab und ließ dann seine Faust auf die Tischplatte krachen.
«Wir werden Otto und seine ganze Sippe vernichten», rief er, «und die Gerechtigkeit wiederherstellen! Mein Vater hat damals dem Sachsen Heinrich zum Thron verholfen, weil mein Vater selbst darauf verzichtete. Anstatt sich dafür erkenntlich zu zeigen, hat Otto nach Heinrichs Tod die Macht an sich gerissen. Seither verteilt Otto nach Gutdünken die Ämter an die Speichellecker, die ihm die Herrschaft sichern. Und wir? Die alten Familien, die diese Länder viele Jahre lang regierten? Uns speist er mit Almosen ab!»
Evurhard schenkte sich erneut Wein nach, wobei er einen Teil davon verschüttete.
Trink nur ordentlich weiter, dachte Thankmar. Er wartete darauf, dass Evurhard endlich zu dem Punkt kommen würde, der Thankmar am wichtigsten war.
Doch zunächst war Evurhard mit Trinken beschäftigt. Huga rutschte zunehmend nervöser auf seinem Stuhl herum. Es war offensichtlich, dass der Wein seinem Herrn bereits kräftig zu Kopfe stieg.
Und dann war es so weit.
«
Ich
werde das Erbe meines Vaters antreten!», rief Evurhard. «
Ich
werde dieses Reich regieren! So wie zuvor mein Onkel Konrad und davor viele andere Männer aus unserem Geschlecht. Die Macht gehört in die Hand der Nachfahren Konrads!»
Evurhard setzte den Becher an. Beim Trinken rann ihm Rotwein aus den Mundwinkeln, tropfte in seinen kurzen Bart und dann auf sein Hemd. Als der Becher leer war, warf er ihn hinter sich an die Wand, wo er krachend zerbrach. Dann ließ er einen triumphierenden Blick von einem zum anderen gleiten, als habe er die entscheidende Schlacht schon gewonnen.
Thankmar hatte sich die ganze Zeit unter Kontrolle gehabt. Doch jetzt wallte heiße Wut in ihm auf. Der Bastard sah sich tatsächlich schon auf dem Thron! Unter dem Tisch ballte er die Hände zu Fäusten und versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, dem betrunkenen Evurhard gleich hier ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen. Aber er musste sich zurückhalten, musste sich mäßigen. Noch brauchte er Evurhard, und vor allem brauchte er dessen Soldaten.
Huga fand als Erster die Sprache wieder. Vorsichtig warf er ein, dass nun bald die Sonne untergehen würde und man das Zeltlager errichten sollte.
Thankmar schluckte seinen Ärger herunter. «Selbstverständlich habe ich für Euch ein Nachtlager auf der Burg herrichten lassen, Herzog. Ihr seid mein Gast und müsst nicht im Zelt nächtigen.»
Huga antwortete für seinen Herrn, der sich schwer atmend am Tisch abstützte.
«Habt Dank für Euer Angebot, Markgraf. Aber wir halten es für geboten, bei unseren Männern zu bleiben.»
Das überraschte Thankmar. Misstraute Evurhard ihm etwa doch?
Da wankte der Herzog zu ihm und bat ihn, sich zu erheben. Als Thankmar das tat, schloss Evurhard ihn in seine Arme wie einen alten Freund.
«Ihr seid ein guter Kerl, Markgraf», sagte der Herzog mit schwerer Zunge. «Es ist gut, Euch an meiner Seite zu wissen. Mit so treuen Gefolgsleuten, wie Ihr einer seid, werde ich die Macht erringen.»
Thankmar nickte bestätigend. Sein Blick wanderte zu Huga, der ihn misstrauisch beäugte.
Die Kröte ahnt irgendetwas, dachte er.
26.
Thankmar wurde vom Morgenlicht geweckt, das durchs geöffnete Fenster in die Kammer sickerte. Er rieb sich die Augen und wälzte sich schlaftrunken aus den Fellen. Barfuß trat er ans Fenster, durch das ihm die Kälte entgegenschlug. Draußen waren in der aufkommenden Helligkeit bereits die Konturen der Wohn- und Nebengebäude und des Walls zu erkennen. Dazwischen hatten sich Pfützen gebildet.
Weitere Kostenlose Bücher