Das Lied des Todes
Aus einem Stall war das Schnauben eines Pferds zu hören. In den Wäldern jenseits des Walls schrie ein Eichelhäher.
Irgendwo in den Wäldern der Mark versteckt sie sich, dachte Thankmar.
Mittlerweile war es einige Tage her, seit der Fluch der Seherin das letzte Mal über ihn gekommen war, vielleicht drei oder vier Tage, so genau wusste er es nicht mehr. Die Anfälle folgten keinem bestimmten Rhythmus, an dem er sich hätte orientieren können. Manchmal erschien die Seherin zweimal an einem Tag in seinem Kopf, dann ließ sie ihn wieder längere Zeit in Ruhe.
Thankmar hatte sich in den letzten Jahren oft gefragt, wie lange er die rasende Unruhe und die Schmerzen, bei denen sein Schädel zu zerbersten drohte, noch würde aushalten können. Die Antwort kannte er nicht. Auch Poppo konnte ihm in dieser Beziehung keinen Rat geben. Aber eines war ihnen durch ihre vielen Gespräche und Poppos Studium gelehrter Schriften klargeworden: Viel Zeit hatte Thankmar nicht mehr, bis ihn der Fluch das Leben kosten konnte. Diese Zeit musste er nutzen, um das Zauberweib in seine Gewalt zu bringen – und zwar lebend! Nur sie selbst würde in der Lage sein, den Fluch von ihm zu nehmen. Würde sie vorher sterben, wäre die letzte Gelegenheit vertan. Daher hatten Thankmars Soldaten den strikten Befehl, die Seherin aufzuspüren und gefangen zu nehmen, ohne ihr ein Haar zu krümmen.
Immer mehr Vögel begannen zu singen. Bald verdrängte ihr munteres Gezwitscher die Stille, die über der nächtlichen Burg gelegen hatte. Thankmar, der häufig am Fenster stand und zu den Wäldern hinüberschaute, glaubte, dass der Gesang in den vergangenen Wochen dünner geworden war. Viele Vögel waren wieder verschwunden. So wie jeden Herbst, wenn die Tage kürzer und die Nächte länger wurden. Im Frühling kehrten die Tiere auf wundersame Weise zurück, und alles begann wieder von vorn. Immer wieder und immer so fort.
Aber im kommenden Jahr sollte alles anders sein!
Thankmar wandte sich vom Fenster ab. Es war so weit, der Tag begann. Jetzt würde er Evurhard verabschieden.
Auf dem Platz vor dem Burgtor herrschte schon geschäftiges Treiben. Die Franken hatten früh damit begonnen, ihre Zelte abzubauen, und waren fast fertig, als Thankmar hinzukam. Er entdeckte Evurhard und Huga inmitten der Soldaten, die Stangen und Zeltbahnen verstauten und auf die Pferde packten.
Thankmar bemerkte, dass ihm Poppo von der Burg her folgte. Er wartete, bis der Bischof zu ihm aufgeschlossen hatte, dann gingen sie gemeinsam weiter.
Als er den Namen des Herzogs rief und ihm einen guten Morgen wünschte, drehte sich Evurhard zu ihm um. Er machte einen übelgelaunten Eindruck und schien noch unter den Nachwirkungen des Weins zu leiden. Seine Augen waren rot gerändert. Er rieb seine klammen Hände aneinander.
«Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht hier draußen», sagte Thankmar.
Evurhard nickte ihm mürrisch zu und begann seine Schläfen zu massieren. Hugas Augen funkelten.
«Ihr hättet meine Einladung annehmen sollen», sagte Thankmar, «mit einem festen Dach über dem Kopf schläft es sich besser – und trockener.»
«Wahrscheinlich habt Ihr recht», entgegnete Evurhard. «Aber in diesen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug sein.»
«Ja!», pflichtete Huga ihm bei. «Denn eine Sache hat uns doch recht verwundert.»
«So?», erwiderte Thankmar. «Würdet Ihr mir verraten, was Ihr meint?»
«Nun, wir hatten fest damit gerechnet, dass Ihr Ansprüche auf den Thron erheben würdet. Schließlich stammt Ihr in direkter Linie vom alten Heinrich ab. Da liegt es doch nahe, dass Ihr Begehrlichkeiten hegt.»
Hugas Worte waren zwar nicht als Frage formuliert, aber als eine solche gemeint. Thankmar nahm an, dass die beiden das Thema eigentlich gestern Abend hatten anbringen wollen. Der Wein hatte Evurhard wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie auch immer – Thankmar war auf diese Frage vorbereitet, denn sie war, wie die Kröte soeben treffend bemerkt hatte, naheliegend.
«Ja, es stimmt», sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht. Er musste den Herzog und dessen Berater in Sicherheit wiegen. «Ich habe einen Anspruch auf den Thron!»
Huga zuckte zusammen, und Evurhard hörte auf, seine Schläfen zu massieren.
«Und ich denke», fuhr Thankmar fort, «es wäre nur gerecht, wenn ich als Anwärter zumindest in Betracht gezogen werden würde. Aber nicht ein Mann allein kann entscheiden, ob er König wird oder nicht. Er muss, wie jeder weiß,
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