Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
aber eben dies widerstrebte ihr. Es war etwas anderes, einen Umhang zu entwenden, dessen Besitzer ihr unbekannt war, als einen der wenigen Menschen zu bestehlen, die ihr im Kloster freundlich gesinnt waren. Der Umhang war aus grober Wolle, er musste genügen.
Beim gemeinsamen Abendessen beugte sie sich über ihren Teller und aß, obwohl sie nichts von dem kräftigen Gemüsebrei zu schmecken imstande war. Nach dem letzten Gebet mischte sie sich unter den Strom von Frauen. Wie sollte sie den letzten Tag hier nur überstehen, ohne vor Furcht und Aufregung verrückt zu werden? Anna zwang sich zur Ruhe und nutzte den Rest des Abends, indem sie sich wieder und wieder das Wiedersehen mit ihren Liebsten ausmalte. Tatsächlich fiel sie bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie noch vor Sonnenaufgang mit neuer Zuversicht erwachte. Als sie aus dem Fenster sah, prasselten dicke Regentropfen gegen die Scheibe und liefen in Rinnsalen daran hinunter.
Sebastian und Caspar machten es genau so, wie der Einarmige es vorgeschlagen hatte. Auf den Marktplätzen rempelte Caspar einen vorher sorgfältig ausgesuchten Bürger oder eine Bürgerin an und entschuldigte sich wortreich mit zerknirschter Miene, während Sebastian von hinten herantrat und mit einem scharfen Messer den Beutel oder die Geldkatze vom Gürtel schnitt. Bevor das Opfer den Verlust überhaupt bemerkte, war der Junge im dichten Gedränge untergetaucht und auch Caspar war längst verschwunden.
Beim ersten Mal hatte Sebastian das Herz derart in der Brust gehämmert, dass er glaubte, alle müssten es hören oder ihm den bevorstehenden Diebstahl an der Nasenspitze ansehen. An einem verabredeten Ort trafen sich die beiden und teilten die Beute untereinander auf. Als Sebastian sah, was sie ergaunert hatten, wurde ihm ganz heiß vor Freude und Erleichterung. Weder an diesem noch am nächsten Tag musste er sich hungrig zur Ruhe legen.
Bereits eine Woche, nachdem er das erste Mal mit seinem neuen Freund » zusammengearbeitet « hatte, trug er einen ganzen Silbergulden, zehn Kreuzer und ein gutes Dutzend Nürnberger Pfennige in dem Lederbeutel mit sich herum, den er einem fetten Pfeffersack vom Gürtel geschnitten hatte. Endlich konnte er sich eine eigene Decke leisten und brauchte nicht mehr mit dem stinkenden Ding des Bettlers vorliebzunehmen. Wenn ihn zwischendurch Gewissensbisse plagten, wischte er sie energisch beiseite. Dennoch schickte er an manchen Tagen Stoßgebete gen Himmel und bat um Vergebung. Ich mache das nur so lange, bis ich weiß, wo ich bleiben kann, tröstete er sich dann. Niemals durfte Anna ihn so sehen. Doch solange sie im Kloster lebte, war eine zufällige Begegnung zwischen ihnen mehr als unwahrscheinlich.
Eines Tages – Caspar und Sebastian hatten sich nach einem ausgiebigen Frühstück auf die andere Seite der Pegnitz begeben – zeigte der Einarmige am Rande des Saumarktes auf einen Mann, der an einem der Pferche stand und die Tiere begutachtete. Er war in einen langen Wollmantel gehüllt, der ebenso Wohlstand verriet wie das Barett mit der Brosche. An den Füßen trug der Mann keine Schnabelschuhe, sondern die neuen, vorne abgerundeten Kuhmäuler. Der Schweinehändler eilte herzu, doch die beiden Männer wurden sich anscheinend nicht handelseinig.
» Los geht’s « , flüsterte Caspar, als der Mann weiterschlenderte. » Wir treffen uns dann auf der Insel Schütt. «
Sebastian folgte dem Freund. Der Unbekannte sah sich um und schritt auf ein weiteres Gehege zu, in dem sich ein gutes Dutzend quiekender Ferkel tummelte. In diesem Moment trat ihm Caspar mit abgewandtem Gesicht in den Weg und lief in ihn hinein. Der Mann verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den dreckigen Boden.
» He, kannst du nicht aufpassen, du Habenichts! « , stieß er hervor. Mühsam erhob er sich und klopfte sich den Staub von den Kleidern.
» Vergebung, Herr « , bat Caspar. » Hab Euch wirklich nicht gesehen. « Er trat vor und streckte die Hand aus, als wollte er ihm helfen, den Mantel zu reinigen.
» Nimm deine Finger weg, Kerl, und geh mir aus den Augen! « Der Mann wedelte mit beiden Händen, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen.
» So lasst mich Euch doch helfen, mein Missgeschick tut mir wirklich leid « , rief Caspar.
» Du sollst verschwinden, sag ich! «
Mit zwei Schritten war Sebastian hinter dem Mann, legte die Hand um den Griff seines Messers und zog es aus dem Gürtel. Sein Blick suchte den Geldbeutel. Eine Bewegung, ein schneller
Weitere Kostenlose Bücher