Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
hatte? Wenn sich dort ehemalige Nachbarn aufhielten? Sie nahm einen tiefen Atemzug und betrat das Haus. Ein beleibter Mann mit schütteren Haaren saß an der Werkbank.
» Grüß Gott. «
» Gott zum Gruß. Herr Stöckl, nehme ich an? «
Sie hielt dem Blick des Beinschnitzers stand, der sie unverhohlen von Kopf bis Fuß musterte. » Ganz recht. Was kann ich für Euch tun? «
» Ich suche Sebastian. Sebastian Stäubling. Er soll Lehrling bei Euch sein. «
Stöckl machte eine wegwerfende Handbewegung. » Das war er, allerdings nur, bis ich den Bengel hinausgeworfen habe. Der taugte nicht zum Beinschnitzer. « Sein Blick wurde schärfer. » Wieso wollt Ihr das wissen? Seid Ihr eine Verwandte? «
» Nein, nein « , wehrte sie hastig ab. » Könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo er sich aufhält, Herr Stöckl? «
Der Mann kratzte sich am Hinterkopf. » Nein, ist mir völlig gleich, bin heilfroh, ihn los zu sein. «
» Hat er etwas angestellt? « , fragte Anna in betont gleichmütigem Ton.
» Bestohlen hat er mich, der Tunichtgut! «
Jedes seiner dahingeworfenen Worte hallte in ihr nach. Anna befeuchtete ihre trockenen Lippen. » Wie lange ist das her? «
Stöckl zog die Stirn kraus. » Etwa vier Wochen. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun? «
» Nein, habt vielen Dank. Ich möchte Euch nicht länger aufhalten. « Mit diesen Worten eilte sie hinaus. Unweit der Werkstatt blieb sie stehen, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Stöckls Nachricht jagte ihr Angst ein. Wo konnte Sebastian sich hingewendet haben? Wie sie ihn kannte, war er viel zu stolz, um zu Onkel Gerald zu gehen und von den Geschehnissen bei diesem Stöckl zu berichten. Auch hatte der Beinschnitzer gewiss mit dem Onkel über Sebastians Diebstahl gesprochen, was eine Rückkehr zusätzlich unmöglich machte. Die Worte des Mannes klangen ihr noch in den Ohren. Der Tunichtgut. Anna sah den Bruder förmlich vor sich. Sebastian und stehlen? Niemals. Wieder schritt sie durch die Gassen, die sich rasch leerten. Schließlich entdeckte sie in der Nähe vom Rossmarkt einen Hinterhof, in dem sie die Nacht verbringen konnte. Es war die Nacht vor Ostersonntag. Sie kauerte sich in einen Verschlag, der offensichtlich als Unterkunft für die Lasttiere der reisenden Händler diente, und rieb sich die klammen Hände. Die Ecke, in der sie sich versteckte, hielt immerhin den kalten Wind ab, und bald wurden ihr die Lider schwer.
Anna erwachte. Noch war alles still, deshalb blickte sie sich um und entdeckte eine Tränke, die bis zum Rand gefüllt war. Das Wasser schien ihr nicht ganz frisch zu sein, aber für eine notdürftige Wäsche genügte es. Sie vergewisserte sich, allein zu sein, schlüpfte aus den Kleidern und wusch sich hastig. Danach zog sie ihre guten Kleider an und schlang sich den Umhang um die Schultern. Das Gewand war etwas knitterig, aber das ließ sich nicht ändern. Einen Kamm besaß sie nicht, also fuhr sie sich mit gespreizten Fingern durchs Haar, um die Strohhalme zu entfernen, die sich darin verfangen hatten. Im vergangenen Jahr am Ostersonntag hatten Martin und sie die Messe in der Lorenzkirche gemeinsam besucht. Ob er auch dieses Mal wieder dort sein würde? Hoffnung keimte in Anna auf und vertrieb für eine kleine Weile ihr nagendes Hungergefühl.
Eilig und voller Erwartung schlich sie auf Zehenspitzen vom Hinterhof, denn hinter den Fensterscheiben erwachten allmählich die Bewohner. Bald darauf hörte sie die Glocken der Lorenzkirche, die zum Kirchgang riefen. Die Menschen strömten aus den Häusern, alle in ihren feinen Sonntagsstaat gekleidet, und folgten dem Geläut. Währenddessen wartete Anna im Schatten eines Hauses, dessen hölzernes Vordach weit auf die Gasse gegenüber von dem prächtigen Gotteshaus hinausragte. Warum nur dauerte der Gottesdienst so lang? Sie trat von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Als endlich mehr und mehr Kirchgänger herauskamen, beschleunigte sich ihr Puls. Viele der Gläubigen erkannte sie wieder, es waren vertraute Gesichter aus ihrer Kindheit, langjährige Kunden der Werkstatt ihrer Eltern. Martins Gestalt war nicht unter ihnen.
Anna wollte sich bereits auf dem Absatz umdrehen, da sah sie ihn aus dem Portal treten. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Wie gut er aussah! Er hatte das Haar ordentlich nach hinten gekämmt und trug seinen besten Mantel. Könnte sie doch nur auf ihn zurennen und ihn umarmen, aber sie musste vernünftig sein und warten, bis er sich
Weitere Kostenlose Bücher