Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
Stunde unseres Todes … « , hörte Anna sie murmeln. Wie oft hatten ihre Lippen dieses Gebet im Kloster geformt. Zögernd schritt sie den Gang hinunter. Während das Sonnenlicht durch die hohen Kaiserfenster fiel, trat der Pfarrer aus einer schmalen Tür in der linken Seitenwand des Kirchenschiffs. Als er sie bemerkte, hoben sich seine Brauen.
Anna ging ihm entgegen. » Gott zum Gruß. Ich danke Euch nochmals für alles, was Ihr für mich getan habt. «
Osiander betrachtete sie freundlich. » Gern geschehen. Hattet Ihr eine ruhige Nacht? «
Wann würde sie diesem überaus hilfsbereiten Mann wieder in die Augen schauen können? » Danke. Ich muss Euch dringend etwas fragen, Hochwürden. «
» Nur zu. «
» Ihr kennt doch sicherlich einen jungen Mann namens Martin Pfanner « , eröffnete sie mit zitteriger Stimme, was ihr in der Nacht nicht aus dem Sinn gegangen war. » Er ist groß und schlank und hat dunkelbraunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt. «
» Der Ziehsohn des Gewandschneiders in der Findelgasse? Natürlich « , antwortete Osiander mit einem Schmunzeln. » Er zählt ja zu meinen Schäfchen. Kommt regelmäßig in die Messe. «
Anna senkte die Lider. » Ich habe ihn gestern in Begleitung einer fremden Frau gesehen. Wisst Ihr, wer sie ist? «
» Warum fragt Ihr? «
» Bitte, ich muss es wissen. «
» Also gut. Ich habe Martin und Therese Gruber vor acht Tagen getraut. «
In Annas Ohren war plötzlich ein dumpfes Rauschen, und die Stimme des Seelsorgers klang wie von weit her. Sie schwankte, fühlte Osianders festen Griff und wehrte ihn ab. Sie sollte dem Pfarrer für seine Auskunft danken, aber aus ihrem Mund drang kein einziger Ton. Mit unsicheren Schritten setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie schließlich aus dem Kirchentor schritt und heller Sonnenschein sie blendete .
Getraut. Vor acht Tagen. Therese Gruber. Die Worte hatten sich wie feurige Zeichen in ihr Hirn gebrannt. Unwillkürlich griff sie sich an die Stirn und stolperte voran, die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht gezogen. Getraut. Vor acht Tagen. Therese Gruber. Anna lief weiter. Menschen gingen an ihr vorüber. Alle Geräusche schienen auf einmal wie in Watte gehüllt zu sein, so als wäre sie durch unsichtbare Schleier von der Welt getrennt. Wohin sie wollte, wusste sie nicht. Nur fort. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihrem Inneren aus und nahm ihr fast den Atem.
Abseits der belebten Gassen fand sie eine Bank und ließ sich nieder, denn ihre Füße wollten sie nicht mehr tragen. Martin hatte seine Frau angelächelt, ihre Blicke sprachen Bände. Onkel Geralds Pläne und Wünsche hatten sich also erfüllt. Anna fror, obwohl sich die Sonne durch die Wolken stahl und die Bank in gleißendes Licht tauchte. Wie schäbig, wie hinterhältig. Tränen rannen ihr übers Gesicht, und sie wischte sie wieder und wieder fort. Wie lange sie dort saß und blicklos geradeaus starrte, wusste sie nicht. Irgendwann stand sie auf und lief weiter.
Immer wieder hörte sie Martins Stimme, die zu ihr von Liebe gesprochen hatte. Während all der Monate, die sie im Kloster hatte zubringen müssen, waren es der Gedanke an ihn und die Hoffnung an ein baldiges Wiedersehen gewesen, die ihr Kraft gegeben hatten. Aber sie hatte sich in ihm getäuscht. Anna biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete. Besinn dich auf Sebastian, rief sie sich selbst zur Ordnung, den einzigen Menschen, an dessen Liebe du nie gezweifelt hast. Sie musste ihn finden.
Mit gesenktem Kopf schritt sie durch die Gassen ihrer Heimatstadt. Räder knirschten auf dem Pflaster. Ein Gerber, den Ochsenkarren mit allerlei Fellen beladen, kam ihr entgegen. Sie verbreiteten einen beißenden Gestank, und Anna presste sich eine Hand vor die Nase. Ihr Herz raste, als sie des Mannes gewahr wurde, den sie samt seiner Familie von Kindesbeinen her kannte. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn er erfasste, wer sie war, denn damit wäre ihre Rückkehr zu den Dominikanerinnen besiegelt. Ihre Handflächen wurden feucht. Niemand würde dulden, dass sie sich den klösterlichen Pflichten sowie den Anordnungen Gerald Pfanners widersetzte. Angestrengt schaute Anna zu Boden und verbarg ihr Bündel hinter dem Rücken. Dann war der Mann an ihr vorüber. Einen Augenblick blieb sie stehen und blickte sich um. Dieses Mal war es gut gegangen. Sie stolperte vorwärts, bis sie vor einem Haus innehielt, weil sie glaubte, nicht einen einzigen Schritt mehr laufen zu können. Erschöpft setzte
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