Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)
den Anfangsbuchstaben dieses Namens an sich drücken so fest sie nur konnte. A! Sie konnte sich an die Zeremonie nicht erinnern, oder an alles andere, aber sie wusste, dass sie keinen Wegnamen bekommen hatte. Sie war frei! Sie war wild. Ihre Hand hielt inne, ihr Herz wummerte. Begriff sie es denn nicht? Sie war weglos, kein vorgeschriebener Pfad, dem sie folgen musste, nur weites, unberührtes Land. FREI!
Isabelle, Redbliss, sogar Fingermann. Namen, das waren Gitter, Zäune, Gefängnisse, in Tinte getauchte Watte in einem leeren Bauch.
Sie lächelte und zum ersten Mal seit Monaten war es ein wirkliches Lächeln.
Danach war sie nicht mehr allein. Sie hatte einen Verbündeten - sich selbst. Jede Nacht hob sie die zerschlissene Wolldecke, um Isabelle Obdach zu geben, jede Nacht träumte sie von schwarzen Knochen und hieß die Finsternis willkommen. Sie sagte ihren unvollständigen Namen in Gedanken, A, umrankte diesen einsamen Buchstaben mit wunderschönen Blumen, legte ihn behutsam nieder auf Moos, so weich wie Wolken. Schrieb ihn mit federleichten Schwüngen in den Wüstensand. Alles war gut.
Bis zu jenem Tag, an dem ein Licht in die Dunkelheit brach, so hell, dass die Vergangenheit darin verbrannte. Ein einfaches Glas Wasser war nicht das, was es sein sollte. Sie hatte Durst, das Essen war versalzen gewesen, doch seltsamerweise war Anevays Becher leer. Sie bemerkte den nassen Fleck auf der Wolldecke nicht. Isabelle gab ihr ihren. Und Anevay trank davon.
Es dauerte, bis sie die Wirkung spürte, doch dann erkannte sie es daran, dass ihr Kissen Mund und Zähne bekam und anfing ein schmutziges Lied zu singen. Ihre Gedanken wurden zähflüssig. Der Raum bekam Schlagseite und an den schwarzen Glaswänden öffneten sich tausende Augen, die zwinkerten und mit den Pupillen rollten, als wären sie toll geworden. A probierte auf die Beine zu kommen, doch als sie die Füße mühsam über die Bettkante hievte, fiel der Boden wie ein Fahrstuhl nach unten und schrie dabei. A versuchte Isabelle zu fixieren, aber ihr Körper waberte herum, als schwebe er unter Wasser, die Konturen lösten sich auf, nur um an einer anderen Stelle wieder ineinander zu fließen.
»Was … hast … du … getan?«, lallte Anevay, die Zunge so schwer wie ein Fels.
Sie hörte die Glastür nicht, erfasste nicht den Schattenriss darin. Sie wurde einfach aus dem Bett gerissen.
Isabelle schrie erschrocken, doch ein harter Schlag stieß ihr Gesicht zurück in das Kissen. A fühlte die Angst dahinter wie einen uralten Raum. Dann wurde sie selbst geschlagen, auf die Schulter, gegen die Hüfte.
»Hoch mit dir, Miststück!« Die Worte wie Splitter in ihren Ohren. Ein Gewitterblitz erhellte den Raum, ließ vage Konturen zu: Fingermann, der mit einem Stock über ihr fuchtelte. Er wollte jede Sekunde. Er wälzte sich darin. Sogar als er zuschlug. Eine hohle Stimme jaulte:»Ich hab es ihr doch längst ins Wasser getan! Sie wird nicht kämpfen, so lasst sie doch.«
Den nächsten Schlag wehrte A gerade noch ab. Sie kreuzte die Arme über ihrem Gesicht. Plötzlich war sie furchtbar leer. Das lackierte Holz streifte ihre Lippen, schrammte über ihre Schneidezähne, drängte sich in ihren Mund. Sie fauchte, doch nur ganz leise.
»Ich will sie in einem Stück, Fingermann! Was ist das nur zwischen euch beiden, hm? Woher dieser Hass?« Der Winter betrat den Raum. Seine Flocken schwebten zu ihr. Neben ihm tanzte plötzlich Isabelle einen einsamen Tanz. Ihr Haar tobte, doch ihre Augen blieben starr. Dann stand sie schräg im Raum, oder war der Boden wieder schief? Ein Schlag aus dem Handgelenk, siebenundzwanzig Knochen in Wut gehüllt.
Anevays Gedanken wurden schwer. Sie kippten in einen See aus altem Gras. Die Worte kamen nun ganz langsam zu ihr, so als müssten sie ihre eigenen Silben überwinden.
»Nimm die andere auch mit, der Kunde hat ausdrücklich blonde Haare verlangt.«
War da ein Schrei neben ihr? Ein kraftloses Nein!? A bäumte sich auf, doch ihr Körper schwirrte davon. Ihre Hand schrammte etwas, das rau war und nach dicken Haaren roch. Erhitzte Worte trafen sie, wollten mehr von ihr. ›Ich mag es, wenn du dich wehrst.‹ Sie lachte. Was für ein verrückter Traum. Warum aber schmeckte das Blut in ihrem Mund so nah? Als würde es zu ihr gehören. ›Hey, geh da weg, du dunkle Schneeflocke. Ich mag dich nicht! Hast du gewusst, dass sie mir keinen Wegnamen gegeben haben? Kein Name! Nicht für mich.‹
Keinen Namen zu haben hatte
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