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Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Titel: Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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Augen nahmen die Tageszeiten zwar noch wahr, aber sie weigerten sich, ihnen noch länger Aufmerksamkeit zu schenken, so blieben sie immerzu müde.
    Isabelle verfiel in eine Art von apathischer Selbstaufgabe, die sie mit Geschichten füllte, die A angestrengt ignorieren musste, um nicht verrückt zu werden. Dabei flocht das hagere Mädchen ihre Haare jedes Mal zu einem dicken, farblosen Tau. War das letzte, fürchterliche Wort gesagt, sank sie zurück in ihr Kissen und ribbelte den Zopf wieder auf, um von vorn zu beginnen. Oft raubte sie Anevay damit nicht nur den Schlaf sondern vielmehr alle Hoffnung, die sie sich so verzweifelt zu bewahren versuchte. 
    So gab es das Schlurfen, wie A es innerlich nannte. Es war die kurze Spanne von der versiegelten Zelle bis in den Speisesaal. Umgeben vom schwarzen Glas wirkten die Tunnel wie die Schächte eines verlassenen Bergwerks. Es folgten Menschen mit stumpfen, abweisenden Mienen, eine Kelle Reis auf den Teller, geh weiter Kind. Löffel rein, Löffel hoch, zum Mund. Du musst essen! Ein Seitenblick in die verrotteten Gesichter und die gewölbte Decke stürzte über einem ein. Manchmal zitterten Anevays Lippen danach, so sehr, als wollten alle Tränen, die sie in sich trug, gleichzeitig aus ihr hinaus. Dann verharrte der Löffel vor ihr, wollte nicht in ihren Mund, sondern geschliffen werden, zustoßen. Frei sein!
    Doch waren all diese Gedanken aus Glas.
    Manchmal, wenn sie glaubte, nur ihre Ohren würden es hören, weinte sie so heftig, dass sie erschrocken die Hand vor den Mund presste. Dann war jeder Atemzug nur noch eben dieser eine Faden zu dem man sank, nicht mehr jener, an dem man sich ebenso emporziehen konnte. 
    Heimweh überfiel sie, so klar, dass sie glaubte, rennen zu können. Doch endeten ihre wilden Schritte an ein und dem selben Ort. Kalt, dunkel und unüberwindbar.
    Nicht einmal die Waschung munterte sie noch auf, die alle im Abstand von einigen Tagen absolvieren mussten. Früher hatte sie dabei in Gedanken schwimmen können, jetzt nicht mehr.
    Anevay verwahrloste, sie verlor bedenklich an Gewicht, als würde die Nahrung, die sie sich zwang zu essen, nur aus grauem Staub bestehen. Nachts fror sie, klammerte sich an sich selbst und horchte Isabelles Wimmern.
    Irgendwann stand dieses blasse Etwas nachts vor ihrem Bett, schlotterte von den Haaren bis zu den nackten Zehen. Anevay ließ sie unter ihre Decke und so klammerten sie sich zu zweit aneinander, bis ihre Körper so entkräftet waren, dass selbst das Zittern müde wurde und der Schlaf sie für ein paar Stunden erlöste. Dort träumte A von Dunkelheit. Dichter, verwobener Dunkelheit, die ihr in die Haare kroch und begann ihre Knochen auszuhöhlen, um darin zu wohnen.
    In unregelmäßigen Abständen brachte man sie zu Mrs Redbliss, die immer freundlich war. Anevay saß da wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl vor dem großen Schreibtisch, hatte aber auf die vielen Fragen keine neuen Antworten. Im Gegenteil, es schien fast, als würde sie sich kaum noch an das Mädchen erinnern, das ihr Vater immer so liebevoll A genannt hatte. ›Papa?‹ Häufig blinzelte sie verwirrt, zog die Stirn kraus, kniff die Augen zusammen, aber es glitten immer mehr Bilder hinweg. Ein Schiff, das langsam unterging. Sie entschuldigte sich, doch Mrs Redbliss schien Verständnis dafür zu haben, ja, sie wirkte sogar erleichtert, lobte, dass sie Fortschritte mache. Es sei der Weg in ein neues, unbelastetes Leben. Anevay verstand das nicht, aber sie nickte dankbar. 
    Danach durfte sie mit einigen anderen im Speisesaal Watte in die Bäuche von leeren Puppen stopfen. Still war es während der Arbeit. Fingermann saß auf einem Hocker, musterte sie mit schläfrigen Augen, doch wenn er Anevay ansah, dann blinkte etwas Wartendes in seinen Pupillen auf, das ihr Angst machte. Sie verbarg sich hinter ihrem Haar, in dem die Dunkelheit träge aber stetig in sie kroch. A war froh, dass man ihr das Haar gelassen hatte, denn verstieß man drei Mal gegen die Regeln des Hauses, so wurde es einem weggeschoren. Dann war man gar nichts mehr, dann war man eine tote Puppe mit Watte im Bauch. Sie wollte keine Puppe sein, niemals. Als sie ihre Hände dabei beobachtete, wie diese scheinbar ohne eigenen Willen taten, was ihnen aufgetragen worden war zu tun, da begriff sie, dass sie eines nicht vergessen durfte, um keinen Schmerz auf der Welt: Sie durfte ihren Namen nicht vergessen! Nicht Anevay, das war der Name, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Nein, sie musste

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