Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)
also fortan von einem Zeppelin gezogen werden, um damit wohl zweierlei Dinge zu erfüllen: Die Verkehrswege weiterhin offen und ganz nebenbei die Stadt und ihren Luftraum im Auge zu behalten. Die Türen wurden geöffnet.
Liesel kauerte sich in den nächstbesten Sitz. Das Abteil roch nach nasser Kleidung und billigem Fusel. Sie stellte den Korb neben sich auf den Boden, als wäre nur etwas Brennholz darin und nicht etwa Brot und Suppe, die für Tage reichen konnten. Sie hoffte, niemand würde den Geruch des Brotes erkennen. Ein Horn erklang, dann ruckte der Zug vorwärts, jemand stieß sie dabei an. Sie atmete erleichtert aus, als derjenige schnell weiterging.
Was aber war mit ihr los? Sie fühlte sich wie ein Verbrecher, der noch immer das Tatwerkzeug in der Hand hielt. Auf einer Bühne, mit Scheinwerferlicht mitten im erschrockenen Gesicht. Erkannt, verurteilt und nur einen Augenblick später, auf einem Rad fixiert, der jubelnden Menge vorgeführt. Eine Schande ertragend, die Mutter und Vater mit ansehen müssen. ›Wir haben es gewusst! Wir haben es immer gewusst …‹
Die Lokomotive hielt wesentlich langsamer als sonst, da ein Zeppelin nicht punktgenau stoppen konnte, wie es ein Zug an einer Haltestelle der Stadtbahn gewöhnlich tat. Liesel stand auf und stellte sich an die Ausgangstüren, den Korb lässig im Arm. Als sie endlich zum Stillstand kamen, musste sie erst durch wilde Sträucher neben der Strecke laufen, bis sie die Treppe hinunter eilen konnte, mehr eine Flucht als ein Heimkommen. Sie begann zu rennen.
Das Schloss klemmte, zugefroren? Oder war etwa der Schlüssel verkehrt? Sie drückte alle Klingeltasten. Ihr Herz schlug zu schnell, zu langsam? Sie stieß die verwitterte Tür auf, Glas splitterte. Sie durchquerte den gefliesten Flur. Die knarrenden Stufen hinauf. Ihr Herz dröhnte, rauf in Nummer 401. Zimmerstimmen platzten in ihr Herz, scherzten, versuchten sie abzulenken. Es war Abendbrotzeit, da waren die Götter besonders wirksam. Zufriedenheit ganz nah.
Liesel aber wurde kalt.
›Es war verloren, nicht wahr? All die Geborgenheit, all die Zuversicht, mit einem Winterwind ausgelöscht.‹ Sie stolperte in die Wohnung wie ein verwundeter Soldat.
»Mutter!«
Ein Husten erklang. »Hier, Liesel.«
Sie lebte, sie lebte noch! Woher war dieses kalte, grabestiefe Gefühl nur gekommen? Sie setzte schnell ein Lächeln auf.
Ihre Mutter hatte trotz aller Mahnungen das Bett verlassen und Tee gekocht. Ihre Lungen klangen immer furchtbarer. Eine Zeit lang saßen sie schweigend am abgewetzten Küchentisch. Etel Furtwanger war eine schöne Frau gewesen, jetzt hatte die Krankheit sie in ein ausgemergeltes Wesen verwandelt, das kaum noch wiederzukennen war. Der Schatten von Hel lag wartend in den tiefen Furchen, die sich um ihren Mund gebildet hatten. Liesel entdeckte einen Stoß neuen Brennholzes unter der Spüle.
»Woher ist das, Mama? Du warst doch nicht etwa draußen, oder?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf, was sie sichtlich einige Kraft kostete.
»Jakob Rothmann war hier, Liesel. Er war so lieb und hat einen Klafter für uns mitgebracht. Er wollte dich sprechen, aber ich sagte ihm, dass du im Hafen Spätschicht hättest.« Ihre knöchrigen Hände klammerten sich um die Teetasse. »Er sucht seinen Sohn, den Peter, fragte, ob wir ihn vielleicht gesehen haben.» Sie hustete wieder.
»Den Peter?« Liesel dachte nach, wann sie das letzte Mal dem jungen Rothmann begegnet war. Sie erinnerte sich nicht, es war zu lange her. Wohl im Sommer. Außerdem hatte sie keine Zeit, sie musste sich umziehen und auf den Weg zum Atlantik -Hotel machen. Sie hatte die Mittelschicht heute. Sie stellte den Korb mit dem Eintopf neben den Herd, wies ihre Mutter an, unbedingt davon zu essen, sonst werde sie sehr ärgerlich. Ein gehustetes Versprechen war die Antwort. Etel zog sich in ihre Kammer zurück.
Liesel wechselte die Kleidung und kaum eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft machte sie sich todmüde auf den Weg. Sie musste Geld verdienen. Und dann war da ja noch dieser Lord, auf den sie ein Auge haben sollte.
Das Licht in der Dunkelheit
Die Wochen - oder waren es Monate, Jahre? - vergingen wie eine Schnur, die in die Tiefe führt. Faden für Faden wurde das Leben dunkler, schwerer - lautloser. Es wurde eine Abfolge von Dingen, die sich immer und immer wiederholten, bis diese vollkommen ihre Bedeutung verloren. Erwachen wurde zu einem Kraftakt, sich aufzusetzen zu einem Kampf gegen den eigenen Körper. Die
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