Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
der Tür war so schwarz, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hielt Nadel in der Linken, ihrer Schwerthand, die Kerze in der rechten Faust. Heißes Wachs lief über ihre Knöchel. Der Eingang zum Brunnen war links gewesen, also ging Arya nach rechts. Etwas in ihr wollte rennen, doch fürchtete sie, die Kerze zu löschen. Sie hörte das leise Quieken von Ratten und sah winzige, glühende Augen am Rande des Lichtscheins, aber die Ratten machten ihr keine Angst. Anderes hingegen schon. Es war so einfach, sich hier zu verstecken, so wie sie sich vor dem Zauberer und dem Mann mit dem Gabelbart versteckt hatte. Fast konnte sie den Stalljungen an der Wand stehen sehen, die Hände zu Klauen gekrümmt, und Blut lief aus den tiefen Wunden an seinen Händen, wo Nadel sie zerschnitten hatte. Vielleicht wartete er darauf, sie zu packen, wenn sie vorüberging. Ihre Kerze
würde er von weitem schon sehen. Vielleicht wäre sie ohne Licht besser dran.
Angst schneidet tiefer als ein Schwert, flüsterte die leise Stimme in ihrem Inneren. Plötzlich erinnerte sich Arya an die Gruft von Winterfell. Die war um einiges unheimlicher, redete sie sich ein. Sie war noch als kleines Mädchen zum ersten Mal dort unten gewesen. Ihr Bruder Robb hatte sie mitgenommen, sie und Sansa und den kleinen Bran, der nicht größer war als Rickon jetzt. Nur eine einzige Kerze hatten sie für alle gehabt. Dann entdeckte Bran die Gesichter der Könige des Winters, mit den Wölfen zu ihren Füßen und den Eisenschwertern auf dem Schoß, und seine Augen wurden tellergroß.
Robb führte sie den ganzen Weg bis ans Ende hinunter, an Großvater und Brandon und Lyanna vorbei, um ihnen ihre eigenen Grabstätten zu zeigen. Sansa starrte nur in die stummelige, kleine Kerze, fürchtete, sie könne verlöschen. Die Alte Nan hatte ihr erzählt, dort unten gäbe es Spinnen und Ratten, groß wie Hunde. Robb lächelte nur. »Es gibt Schlimmeres als Spinnen und Ratten«, flüsterte er. »Hier wandeln die Toten.« Da hörten sie das Geräusch, leise und tief und fröstelnd. Der kleine Bran klammerte sich an Aryas Hand.
Als das Gespenst dem offenen Grab entstieg, fahlweiß und nach Blut stöhnend, rannte Sansa kreischend zur Treppe, und Bran schlang sich schluchzend um Robbs Bein. Arya blieb stehen und versetzte dem Gespenst einen Hieb. Es war nur Jon, mit Mehl bestreut. »Du Dummkopf«, fuhr sie ihn an, »du hast den Kleinen erschreckt«, aber Jon und Robb lachten und lachten, und bald schon lachten auch Bran und Arya.
Die Erinnerung daran ließ Arya lächeln, und danach konnte die Finsternis sie nicht mehr schrecken. Der Stalljunge war tot, sie hatte ihn getötet, und falls er sie anfiele,
würde sie ihn abermals töten. Sie wollte nach Hause. Alles würde wieder besser sein, wenn sie erst zu Hause wäre, in Sicherheit hinter den grauen Granitmauern von Winterfell.
Ihre Schritte schickten ein leises Echo voraus, während Arya immer tiefer in die Dunkelheit vordrang.
SANSA
Sansa holten sie am dritten Tag.
Sie wählte ein schlichtes Kleid aus dunkelgrauer Wolle, einfach geschnitten, aber reich verziert um Kragen und Ärmel. Ihre Finger fühlten sich klobig und unbeholfen an, als sie ohne Hilfe ihrer Dienerinnen mit den silbernen Befestigungen rang. Jeyne Pool war mit ihr eingesperrt, doch Jeyne war zu nichts zu gebrauchen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und anscheinend konnte sie nicht aufhören, um ihren Vater zu weinen.
»Ich bin sicher, dass es deinem Vater gut geht«, erklärte Sansa, nachdem sie das Kleid schließlich richtig geknöpft hatte. »Ich werde die Königin bitten, dich zu ihm zu lassen. « Sie glaubte, die Freundlichkeit würde Jeyne wieder auf andere Gedanken bringen, doch das Mädchen sah sie nur mit roten, geschwollenen Augen an und weinte nur noch umso heftiger. Sie war so kindisch.
Auch Sansa hatte geweint am ersten Tag. Selbst innerhalb der dicken Mauern von Maegors Feste, trotz verriegelter und verrammelter Türen, befiel sie das Entsetzen, als das Morden begann. Aufgewachsen mit dem Klirren von Stahl war kaum ein Tag ihres Lebens vergangen, an dem sie nicht gehört hatte, wie ein Schwert aufs andere traf, allein das Wissen darum, dass diese Kämpfe echt waren, machte den entscheidenden Unterschied. Sie hörte es, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte, und anderes noch dazu, Schmerzensschreie, wütende Flüche, Hilferufe und das Stöhnen
der Verwundeten und Sterbenden. In den Liedern schrien die Ritter nie, nie flehten sie um Gnade.
Also
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