Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
durfte, wie sie wollte, solange sie versprach, das Innere der Mauern nicht zu verlassen, ein Versprechen, das Sansa nur allzu bereitwillig gegeben hatte. Die Tore wurden bei Tag und Nacht von Janos Slynts Goldröcken bewacht, und überall standen Leibgardisten der Lennisters herum. Außerdem, selbst wenn sie die Burg verlassen konnte, wohin sollte sie gehen? Es reichte, dass sie über den Hof spazieren konnte, in Myrcellas Garten Blumen pflücken und der Septe einen Besuch abstatten, um dort für ihren Vater zu beten. Manchmal betete sie auch im Götterhain, da die Starks den alten Göttern huldigten.
Der Hof versammelte sich zum ersten Mal, seit Joffrey regierte, weshalb Sansa sich auch unruhig umsah. Eine Reihe
von Leibgardisten der Lennisters standen unter den westlichen Fenstern, eine Reihe von Goldröcken der Stadtwache unter den östlichen. Vom gemeinen Volk und den Bürgerlichen sah sie niemanden, doch unter der Galerie irrte rastlos eine Traube von großen und kleinen Lords herum. Es waren nicht mehr als zwanzig, wo für gewöhnlich hundert auf König Robert gewartet hatten.
Sansa gesellte sich zu ihnen, murmelte Grußworte, während sie sich einen Weg nach vorn bahnte. Sie erkannte den schwarzhäutigen Jalabhar Xho, den düsteren Ser Aron Santagar, die Zwillinge von Rothweyn Horror und Slobber … nur schien niemand sie zu erkennen. Oder wenn sie es doch taten, scheuten sie vor ihr zurück, als hätte sie die graue Pest. Der kränkliche Lord Gyles versteckte sein Gesicht, täuschte einen Hustenanfall vor, und der lustige, stets trunkene Ser Dontos wollte sie begrüßen, doch Ser Balon flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin auch er sich abwandte.
Und so viele andere fehlten. Wo sind sie geblieben?, fragte sich Sansa. Vergeblich suchte sie nach freundlichen Gesichtern. Niemand wollte ihrem Blick begegnen. Es war, als wäre sie zum Geist geworden, schon im Leben tot.
Großmaester Pycelle saß allein an seinem Ratstisch, schien zu schlafen, seine Hände über dem Bart gefaltet. Sie sah, wie Lord Varys in die Halle hastete, ohne dass seine Schritte zu hören gewesen wären. Einen Augenblick später trat Lord Baelish lächelnd durch die hohen Türen am hinteren Ende ein. Er plauderte freundlich mit Ser Balon und Ser Dontos, während er auf dem Weg nach vorn war. Schmetterlinge flatterten in Sansas Bauch. Ich sollte keine Angst haben, sagte sie sich. Ich habe nichts zu fürchten, alles wird am Ende gut ausgehen, Joff liebt mich und die Königin auch, das hat sie gesagt.
Die Stimme eines Herolds wurde laut. »Grüßet alle Seine
Majestät Joffrey aus den Häusern Baratheon und Lennister, den Ersten seines Namens, König der Andalen, der Rhoynar und der Ersten Menschen, Lord über die Sieben Königslande. Grüßet alle seine Hohe Mutter Cersei aus dem Hause Lennister, Königinregentin, Licht des Westens und Protektorin des Reiches.«
Ser Barristan Selmy, prachtvoll anzusehen in weißem Panzer, schritt ihnen voran. Ser Arys Eichenherz eskortierte die Königin, während Ser Boros Blount neben Joffrey ging, sodass sechs Männer der Königsgarde in der Halle waren, alle Weißen Schwerter bis auf Jaime Lennister. Ihr Prinz – nein, ihr König jetzt! – nahm je zwei Stufen zum Eisernen Thron, indes seine Mutter sich beim Rat niederließ. Joff trug edlen, schwarzen Samt, mit Rot geschlitzt, einen schimmernden Umhang aus Goldtuch mit hohem Kragen und auf seinem Kopf eine goldene Krone mit Rubinen und schwarzen Diamanten.
Als Joffrey sich umdrehte und den Saal überschaute, fiel sein Blick auf Sansa. Er lächelte, setzte sich und sprach: »Es ist die Pflicht des Königs, Untreue zu strafen und jene zu belohnen, die redlich sind. Großmaester Pycelle, ich heiße Euch, meine Erlasse vorzulesen.«
Pycelle erhob sich schwerfällig. Er trug eine prachtvolle Robe aus dickem, rotem Samt mit einem Kragen aus Hermelin und glänzenden, goldenen Spangen. Aus einem herabhängenden Ärmel mit vergoldeten Schneckenverzierungen zog er ein Pergament, entrollte es, begann, eine lange Liste von Namen zu verlesen, und befahl im Namen des Königs und des Rates jedem, vorzutreten und Joffrey die Treue zu schwören. Täten sie es nicht, betrachtete man sie als Verräter, und ihr Land und ihre Titel fielen an den Thron.
Bei den Namen, die er las, stockte Sansa der Atem. Lord Stannis Baratheon, seine Hohe Gattin, seine Tochter. Lord
Renly Baratheon. Beide Lords Rois und deren Söhne. Ser Loras Tyrell. Lord Mace Tyrell, seine Brüder,
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