Das Lied von Eis und Feuer 04 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 04 - A Clash of Kings (Pages 332-728)
bekamen, wieder hinunterführte. Außer seinen Gefährten hatte Jon keine Menschenseele mehr gesehen, seit sie die Wälder hinter sich gelassen und den Aufstieg begonnen hatten. Die Frostfänge waren so unwirtlich wie kaum ein anderer Ort, den die Götter geschaffen hatten, und stellten sich ihnen feindselig entgegen. Der Wind schnitt wie ein Messer ins Fleisch und klagte des Nachts wie eine Mutter, die um ihre erschlagenen Kinder trauert. Die wenigen Bäume hier oben waren verkümmert, groteske Gebilde, die seitlich aus Rissen und Spalten wuchsen. Über den Weg hingen oft Felsvorsprünge, die mit Eiszapfen gesäumt waren, die von weitem wie lange weiße Zähne aussahen.
Dennoch tat es Jon nicht leid, dass er mitgekommen war. Überall gab es Wunder zu bestaunen. Sonnenlicht blitzte auf eisigen, dünnen Wasserfällen, die über hohe Felswände herabstürzten,
und auf einer Bergwiese wuchsen die wilden Blumen des Herbstes, blaue Kaltschnapper, helle scharlachrote Frostfeuer und große Büschel aus rotbraunem und goldenem Pfeifergras. Jon hatte in tiefe, dunkle Schluchten gespäht, die nur in irgendeiner Hölle enden konnten, und er war mit seinem kleinen Pferd über eine vom Wind zerklüftete natürliche Felsbrücke geritten, wo er auf beiden Seiten nur noch den Himmel neben sich gehabt hatte. Adler nisteten in den Höhen und stießen herab, um in den Tälern zu jagen, sie zogen ohne Mühe auf den großen blaugrauen Schwingen ihre Kreise und waren beinahe mit dem Himmel verschmolzen. Einmal hatte er sogar eine Schattenkatze gesehen, die sich an ein Bergschaf anpirschte und wie flüssiger Rauch den Hang hinunterkroch, bis der richtige Augenblick zum Zuschlagen gekommen war.
Jetzt sind wir diejenigen, die zuschlagen. Jon wünschte nur, er könnte sich ebenso sicher und leise bewegen wie die Schattenkatze und ebenso schnell töten. Langklaue steckte in der Scheide auf seinem Rücken, doch vielleicht würde er keinen Platz haben, um es zu benutzen. Er trug einen Dolch und ein Messer für den Nahkampf bei sich. Sie werden auch Waffen haben, und ich trage keine Rüstung. Er fragte sich, wer sich am Ende der Nacht als Schattenkatze erweisen würde und wer als Bergschaf.
Lange Zeit blieben sie auf dem Weg und folgten seinen Windungen entlang der Steilhänge. Aufwärts, immer nur aufwärts ging es. Manchmal schoben sich die Berge vor, und sie verloren das Feuer aus den Augen, doch früher oder später tauchte es wieder auf. Der Pfad, den Steinschlange wählte, wäre für Pferde nicht begehbar gewesen. An manchen Stellen musste Jon den Rücken an den kalten Stein drücken und seitlich wie eine Krabbe Zoll um Zoll vorrücken. Selbst an den Stellen, wo der Pfad breiter war, war er verräterisch; es gab Risse, die so breit waren, dass das Bein eines Mannes darin verschwinden konnte, Geröll, über das man stolpern
konnte, Hohlräume, in denen am Tag Wasser stand, die nachts jedoch mit Eis gefüllt waren. Ein Schritt nach dem anderen, machte er sich Mut. Ein Schritt nach dem anderen, dann stürze ich nicht ab.
Seit ihrem Aufbruch von der Faust der Ersten Menschen hatte er sich nicht mehr rasiert, und die Haare auf seiner Oberlippe waren bald steifgefroren. Nach zwei Stunden Kletterei nahm der Wind plötzlich so stark zu, dass Jon sich nur niederkauern, an den Felsen klammern und hoffen konnte, er würde nicht davongeweht. Ein Schritt nach dem anderen, redete er sich ein, nachdem die Sturmböe nachgelassen hatte. Ein Schritt nach dem anderen, dann stürze ich nicht ab.
Bald waren sie so hoch, dass es besser war, nicht hinunterzuschauen. Unter ihnen gähnte doch nur Schwärze, über ihnen gab es nur Mond und Sterne. »Der Berg ist deine Mutter«, hatte Steinschlange ihm während einer leichteren Kletterpartie vor ein paar Tagen erklärt. »Klammere dich an sie, drück dein Gesicht an ihre Brust, dann wird sie dich nicht fallen lassen.« Jon hatte scherzhaft gesagt, er habe sich schon immer gefragt, wer seine Mutter sei, doch er hätte niemals gedacht, sie in den Frostfängen zu finden. Inzwischen fand er es nicht mehr so lustig. Ein Schritt nach dem anderen, mahnte er sich abermals und klammerte sich fest.
Plötzlich endete der schmale Pfad an einem dunklen Granitvorsprung, der aus der Bergseite ragte. Nach dem hellen Mondschein wirkte der Schatten des Vorsprungs so schwarz, dass er das Gefühl hatte, er betrete eine Höhle. »Hier hoch«, sagte der Grenzer leise. »Wir wollen höher als sie kommen.« Er zog seine Handschuhe
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