Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
spähte Pycelle Ned aus fahlen, feuchten Augen an. »Nun, wo waren wir? O ja. Ihr fragtet nach Lord Arryn …«
»Das stimmt.« Höflich nippte Ned an der gekühlten Milch. Sie war angenehm kalt, für seinen Geschmack jedoch übersüßt.
»Wenn ich die Wahrheit sagen soll, schien der Lord schon seit einiger Zeit nicht mehr er selbst zu sein«, begann Pycelle.
»So manches Jahr saßen wir gemeinsam zu Rate, er und ich, und die Anzeichen waren sehr wohl zu erkennen, doch schrieb ich sie der schweren Last zu, die er treu so lange Zeit getragen hatte. Die breiten Schultern waren unter der Sorge um das Reich und noch manch anderes schon eingesunken. Sein Sohn war stets kränklich und seine Frau so ängstlich, dass sie den Jungen kaum aus den Augen lassen wollte. Das kann selbst einen starken Mann aufreiben, und Lord Jon war nicht mehr jung. Da kann es nicht verwundern, dass er melancholisch und müde wirkte. Oder zumindest hielt ich es damals dafür. Doch nun bin ich mir nicht mehr so sicher.« Gewichtig schüttelte er den Kopf.
»Was könnt Ihr mir von seiner tödlichen Erkrankung berichten? «
Der Groß-Maester breitete seine Arme zu einer Geste hilfloser Trauer aus. »Eines Tages kam er zu mir und erkundigte sich nach einem bestimmten Buch, gesund und munter wie eh und je, doch schien es mir, als bereitete ihm etwas große Sorge. Am nächsten Morgen wand er sich vor Schmerzen, war zu krank, um aufzustehen. Maester Colemon hielt es für eine Magengrippe. Es war heiß gewesen, und Lord Jon kühlte oft seinen Wein, was die Verdauung beeinträchtigen kann. Als er immer schwächer wurde, habe ich ihn persönlich aufgesucht, doch die Götter gewährten mir nicht die Macht, ihn zu retten.«
»Ich habe gehört, Ihr hättet Maester Colemon fortgeschickt. «
Das Nicken des Groß-Maesters war langsam und bedächtig wie ein Gletscher. »Das habe ich, und ich fürchte, Lady Lysa wird es mir nie verzeihen. Vielleicht irrte ich, doch damals schien es mir das Beste. Maester Colemon ist mir wie ein Sohn, und ich stehe niemandem in der Achtung für seine Fähigkeiten nach, doch ist er jung, und die Jugend versteht die Gebrechlichkeit eines älteren Körpers oft nicht. Er entschlackte Lord Arryn mit zehrenden Tränken und Pfeffersaft, und ich fürchtete, es könne ihn umbringen.«
»Hat Lord Arryn Euch während seiner letzten Stunden noch etwas gesagt?«
Pycelle legte seine Stirn in Falten. »Im letzten Stadium seines Fiebers rief die Rechte Hand des Königs mehrmals den Namen Robert aus, doch ob er seinen Sohn oder den König meinte, kann ich nicht sagen. Lady Lysa wollte dem Jungen nicht erlauben, die Krankenstube zu betreten, aus Angst, er könne sich anstecken. Der König kam und saß einige Stunden an seinem Bett, redete und scherzte über alte Zeiten, in der Hoffnung, Lord Jons Lebensgeister zu wecken. Seine Liebe war nicht zu übersehen.«
»Sonst war da nichts? Keine letzten Worte?«
»Als ich sah, dass alle Hoffnung vergebens war, gab ich Lord Jon den Mohnblumensaft, damit er nicht leiden musste. Kurz bevor er die Augen zum letzten Mal schloss, flüsterte er dem König und seiner Hohen Gattin etwas zu, einen Segen für seinen Sohn. Die Saat ist stark , sagte er. Am Ende war nicht mehr zu verstehen, was er von sich gab. Der Tod trat erst am nächsten Morgen ein, doch danach ruhte Lord Jon in Frieden. Und sagte nie mehr ein Wort.«
Ned nahm noch einen Schluck Milch und bemühte sich, an der Süße nicht zu ersticken. »Macht es auf Euch den Eindruck, als wäre etwas Unnatürliches an Lord Arryns Tod?«
»Etwas Unnatürliches?« Die Stimme des alten Maesters war dünn wie ein Flüstern. »Nein, das könnte ich nicht sagen. Traurig, so viel ist sicher. Doch auf seine eigene Art und Weise ist der Tod die natürlichste Sache von allen, Lord Eddard. Jon Arryn kann nun ruhen, seine Last ist ihm am Ende abgenommen.«
»Die Krankheit, die ihn befiel«, sagte Ned. »Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen bei anderen?«
»Fast vierzig Jahre bin ich nun Groß-Maester der Sieben Königslande«, erwiderte Pycelle. »Unter unserem guten König Robert und vor ihm Aerys Targaryen, vorher unter dessen Vater Jaehaerys dem Zweiten und sogar einige kurze Monate unter Jaehaerys’ Vater Aegon, dem Glücklichen,
dem Fünften seines Namens. Ich habe mehr Krankheiten gesehen, als ich heute noch erinnern möchte, Mylord. Eines will ich Euch sagen: Jeder Fall ist anders, und jeder Fall ist gleich. Lord Jons Tod war nicht ungewöhnlicher als
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