Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
jeder andere.«
»Seine Frau ist anderer Ansicht.«
Der Groß-Maester nickte. »Ich erinnere mich, dass die Witwe eine Schwester Eurer hochverehrten Gattin ist. Wenn man einem alten Mann solch schroffe Worte verzeiht, will ich sagen, dass Trauer selbst den stärksten und diszipliniertesten Verstand verwirren kann, und ein solcher war Lady Lysa nie. Seit ihrer letzten Fehlgeburt sah sie in jedem Schatten Feinde, und nach dem Tod ihres Hohen Gatten war sie erschüttert und verwirrt.«
»So seid Ihr Euch sicher, dass Jon Arryn einer plötzlichen Krankheit erlegen ist?«
»Das bin ich«, antwortete Pycelle feierlich. »Wenn nicht eine Krankheit, mein guter Lord, was sonst könnte es sein?«
»Gift«, flüstere Ned.
Pycelles schläfrige Augen blitzten auf. Unbehaglich rutschte der alte Maester auf seinem Stuhl herum. »Ein verstörender Gedanke. Wir sind nicht in den Freien Städten, wo so etwas an der Tagesordnung ist. Groß-Maester Aethelmure schrieb, dass alle Menschen den Mord im Herzen tragen, und dennoch steht der Giftmischer unter aller Kritik.« Einen Moment lang schwieg er mit gedankenverlorenem Blick. »Was Ihr andeutet, ist möglich, Mylord, doch halte ich es nicht eben für wahrscheinlich. Jeder drittklassige Maester kennt die üblichen Gifte, und bei Lord Arryn fanden sich keinerlei Anzeichen davon. Unsere Rechte Hand war bei allen sehr beliebt. Welches Monstrum in Menschengestalt würde einen solch edlen Lord ermorden?«
»Man sagt, das Gift sei die Waffe einer Frau.«
Nachdenklich strich Pycelle über seinen Bart. »So sagt man. Frauen, Memmen … und Eunuchen.« Er räusperte sich und spuckte einen dicken Klumpen Rotz in die Binsen. Über
ihnen krächzte ein Rabe laut im Gebälk. »Lord Varys wurde als Sklave in Lys geboren, wusstet Ihr das? Vertraut nicht auf Spinnen, Mylord.«
Das war keineswegs etwas, das man Ned erst sagen musste. Varys hatte etwas an sich, das ihm eine Gänsehaut bereitete. »Ich werde daran denken, Maester. Und danke für Eure Hilfe. Ich habe genug von Eurer Zeit in Anspruch genommen. « Er stand auf.
Groß-Maester Pycelle erhob sich langsam von seinem Stuhl und geleitete Ned zur Tür. »Ich kann nur hoffen, dass ich zu Eurer Beruhigung beigetragen habe. Falls es noch etwas gibt, mit dem ich Euch zu Diensten sein kann, müsst Ihr nur fragen.«
»Eins noch«, sagte Ned. »Ich wäre sehr daran interessiert, mir das Buch anzusehen, das Ihr Jon an jenem Tag entliehen habt, bevor er krank wurde.«
»Ich fürchte, Ihr würdet es von nur geringem Interesse finden«, sagte Pycelle. »Es war ein langatmiger Wälzer von Groß-Maester Malleon zu den Stammbäumen der großen Geschlechter.«
»Dennoch würde ich es gern sehen.«
Der alte Mann öffnete die Tür. »Wie Ihr wünscht. Ich habe es hier irgendwo. Wenn ich es finde, werde ich es umgehend in Eure Gemächer bringen lassen.«
»Ihr seid sehr freundlich«, erklärte Ned. Dann, fast als nachträglicher Einfall, sagte er: »Eine letzte Frage, wenn Ihr so geduldig mit mir wäret. Ihr erwähntet, dass der König an Lord Arryns Krankenbett war, als dieser starb. Ich frage mich, ob auch die Königin bei ihm war.«
»Aber nein«, sagte Pycelle. »Sie und die Kinder waren auf Reisen nach Casterlystein, in Begleitung ihres Vaters. Lord Tywin hatte zum Turnier an Prinz Joffreys Namenstag ein ganzes Gefolge mitgebracht, zweifellos in der Hoffnung, zu sehen, wie sein Sohn Jaime die Krone des Siegers erringt. Darin wurde er traurigerweise enttäuscht. Mir fiel die Aufgabe zu, der Königin die Nachricht von Lord Arryns plötzlichem
Tod zu überbringen. Nie habe ich schwereren Herzens einen Vogel auf die Reise geschickt.«
»Dunkle Schwingen, dunkle Worte«, murmelte Ned. Es war ein Sprichwort, das die Alte Nan ihn als Junge gelehrt hatte.
»So sagen die Fischweiber«, stimmte Groß-Maester Pycelle ihm zu, »doch wissen wir, dass dem nicht immer so ist. Als Maester Luwins Vogel die Nachricht von Eurem Bran brachte, bewegte diese Nachricht alle, die auf der Burg reinen Herzens sind, war es nicht so?«
»Ganz wie Ihr sagt, Maester.«
»Die Götter sind gnadenreich.« Pycelle verneigte sich. »Kommt zu mir, so oft Ihr wollt, Lord Eddard. Ich bin da, um zu dienen.«
Ja, dachte Ned, als die Tür ins Schloss fiel, nur wem?
Auf dem Weg zurück in seine Gemächer traf er auf der Wendeltreppe zum Turm der Hand seine Tochter Arya, die mit den Armen ruderte und um ihr Gleichgewicht rang, da sie auf einem Bein stand. Die nackten Füße waren am
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