Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
täuschen?, fragte sich Catelyn nicht zum ersten Mal. Sollte er am Ende unschuldig sein, was Bran anging, und Jon und alles andere? Und falls er es wäre, was dann? Sechs Männer waren gefallen, um ihn hierherzubringen.
Entschlossen schob sie ihre Zweifel beiseite. »Wenn wir Eure Burg erreichen, wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr umgehend Maester Colemon rufen lassen würdet. Ser Rodrik fiebert von seinen Wunden.« Mehr als einmal hatte sie gefürchtet, dass der tapfere, alte Ritter die Reise nicht überleben würde. Zum Ende hin konnte er sich kaum noch auf seinem Pferd halten, und Bronn hatte sie gedrängt, ihn seinem Schicksal zu überlassen, doch davon wollte Catelyn nichts hören. Stattdessen hatte man ihn an seinem Sattel festgebunden,
und sie hatte Marillion, dem Sänger, befohlen, auf ihn Acht zu geben.
Ser Donnel zögerte, bevor er antwortete. »Lady Lysa hat dem Maester befohlen, allzeit auf der Ehr zu bleiben, um für Lord Robert zu sorgen«, sagte er. »Wir haben einen Septon am Tor, der sich um unsere Verwundeten kümmert. Er kann sich um die Verletzungen Eures Ritters kümmern.«
Catelyn hatte mehr Vertrauen in die Gelehrtheit eines Maesters als in die Gebete eines Septons. Das wollte sie eben sagen, als sie die Zinnen vor sich sah, lange Brüstungen, die direkt in den Stein des Berges gehauen waren, welcher zu beiden Seiten aufragte. Dort, wo der Pass zu einem engen Hohlweg wurde, der kaum breit genug war, dass vier Männer nebeneinander reiten konnten, klammerten sich zwei Wachtürme an den Felshang, dazu eine überdachte Brücke aus verwittertem, grauem Stein, die sich über der Straße wölbte. Stille Mienen beobachteten sie von Turm, Zinnen und Brücke aus. Als sie fast ganz hinaufgestiegen waren, ritt ihnen ein Ritter entgegen. Sein Pferd und seine Rüstung waren grau, doch sein Umhang trug das gewellte Blaurot von Schnellwasser, und ein schwarz schimmernder Fisch, umrahmt von Gold und Obsidian, war an seine Schulter geheftet. »Wer will das Bluttor passieren?«, rief er.
»Ser Donnel Waynwald mit Lady Catelyn Stark und ihren Begleitern«, antwortete der junge Ritter.
Der Ritter der Pforte hob sein Visier. »Ich dachte schon, die Dame sähe vertraut aus. Du bist fern der Heimat, kleine Cat.«
»Ihr auch, Onkel«, antwortete sie und lächelte allem zum Trotz, was sie durchgemacht hatte. Diese heisere, rauchige Stimme zu hören, führte sie zwanzig Jahre zurück, in die Tage ihrer Kindheit.
»Meine Heimat siehst du in meinem Rücken«, sagte er barsch.
»Eure Heimat ist in meinem Herzen«, erklärte Catelyn ihm. »Nehmt Euren Helm ab, ich will in Euer Gesicht sehen.«
»Die Jahre haben es nicht verschönert, wie ich fürchte«, sagte Brynden Tully, doch als er seinen Helm abnahm, sah Catelyn, dass er gelogen hatte. Seine Züge waren faltig und wettergegerbt, und die Zeit hatte das Kastanienbraun aus seinem Haar gewaschen und nur Grau zurückgelassen, doch das Lächeln war dasselbe, und die buschigen Augenbrauen, fett wie Raupen, und das Lachen in seinen tiefblauen Augen. »Wusste Lysa, dass du kommen würdest?«
»Es blieb keine Zeit, die Nachricht vorauszuschicken«, erklärte Catelyn. Die anderen kamen hinter ihr heran. »Ich fürchte, wir reiten dem Sturm voraus, Onkel.«
»Dürfen wir das Grüne Tal betreten?«, fragte Ser Donnel. Die Waynwalds waren von jeher Freunde der Förmlichkeit gewesen.
»Im Namen Robert Arryns, Lord über Hohenehr, Verteidiger des Grünen Tales und Wahrer Wächter des Ostens, heiße ich Euch einzutreten und fordere Euch auf, den Frieden zu achten«, erwiderte Ser Brynden. »Kommt.«
Und so ritt sie hinter ihm unter dem Schatten des Bluttores hindurch, an dem sich ein Dutzend Armeen im Zeitalter der Helden aufgerieben hatten. Auf der anderen Seite der Steine öffneten sich die Berge plötzlich zu einer Aussicht auf grüne Felder, blauen Himmel und schneebedeckte Gipfel, die ihr den Atem nahm. Das Grüne Tal von Arryn nahm ein Bad im Morgenlicht.
Es breitete sich vor ihnen zum dunstigen Osten hin aus, einem friedlichen Land von reichem, schwarzem Boden, breiten, langsam fließenden Flüssen und Hunderten kleiner Seen, die wie Spiegel in der Sonne glitzerten, von allen Seiten durch Gipfel geschützt. Weizen und Mais und Gerste wuchsen hoch auf den Feldern, und selbst in Rosengarten waren die Kürbisse nicht größer und die Früchte nicht süßer als hier. Sie standen am westlichen Ende des Tales, wo die Bergstraße über den letzten Pass führte und ihren
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