Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
mir? Ich bin Meister der Münze, Berater des Königs. Selmy und Lord Renly sind nach Norden geritten, um sich mit Robert zu treffen,
und Lord Stannis ist nach Drachenstein unterwegs, so bleiben nur Maester Pycelle und ich. Ich war die nahe liegende Wahl. Ich war stets ein guter Freund Eurer Schwester Lysa, das weiß Varys.«
»Weiß Varys von …«
»Lord Varys weiß alles … nur nicht, warum Ihr hier seid.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Warum seid Ihr hier?«
»Eine Ehefrau darf Sehnsucht nach ihrem Mann verspüren, und wenn eine Mutter ihre Töchter bei sich haben will, wer kann es ihr verdenken?«
Kleinfinger lachte. »Oh, sehr gut, Mylady, doch erwartet bitte nicht von mir, dass ich es glaube. Ich kenne Euch zu gut. Wie waren noch die Worte der Tullys?«
Ihre Kehle war trocken. »Familie, Pflicht, Ehre«, antwortete sie steif. Er kannte sie zu gut.
»Familie, Pflicht, Ehre«, wiederholte er. »Die allesamt von Euch verlangten, dass Ihr auf Winterfell bleibt, wo unsere Rechte Hand Euch zurückgelassen hat. Nein, Mylady, irgendetwas ist geschehen. Diese überstürzte Reise verrät eine gewisse Dringlichkeit. Ich bitte Euch, lasst mich helfen. Gute, alte Freunde sollten niemals zögern, sich aufeinander zu verlassen. « Es klopfte leise an der Tür. »Herein«, rief Kleinfinger.
Der Mann, der durch die Tür trat, war plump, parfümiert, gepudert und haarlos wie ein Ei. Er trug eine Weste aus gewebtem Goldfaden über einer weiten Robe aus roter Seide, und an seinen Füßen steckten spitze Pantoffeln aus weichem Samt. »Lady Stark«, grüßte er und hielt ihre Hand mit beiden Händen, »Euch nach so vielen Jahren wiederzusehen, ist mir eine Freude.« Seine Haut war weich und feucht, und sein Atem roch nach Veilchen. »Oh, Eure armen Hände. Habt Ihr Euch verbrannt, Verehrteste? Die Hände sind so zart … Unser guter Maester Pycelle stellt eine großartige Salbe her. Soll ich einen Tiegel bringen lassen?«
Catelyn zog ihre Hand aus seinem Griff. »Ich danke Euch,
Mylord, doch mein eigener Maester Luwin hat sich meiner Schmerzen bereits angenommen.«
Varys nickte ausgiebig. »Ich war zutiefst erschüttert, von Eurem Sohn zu hören. Und noch so jung. Die Götter sind grausam.«
»Darin sind wir uns einig, Lord Varys«, erwiderte sie. Der Titel war nur eine Gefälligkeit auf Grund seiner Tätigkeit als Ratsherr. Varys war nur Lord über sein Spinnennetz, Herr nur über seine Ohrenbläser.
Der Eunuch breitete seine weichen Arme aus. »In noch weit mehr, wie ich hoffe, Verehrteste. Ich habe große Achtung vor Eurem Mann, unserer neuen Rechten Hand, und ich weiß, dass wir beide König Robert lieben.«
»Ja«, sagte sie gezwungenermaßen. »Gewiss.«
»Nie zuvor war ein König so beliebt wie unser Robert«, spöttelte Kleinfinger. Er lächelte verschlagen. »Zumindest nach allem, was Lord Varys hört.«
»Gute Frau«, sagte Varys mit übertriebenem Eifer. »Es gibt in den Freien Städten Männer mit wundersamen Heilkräften. Sagt nur ein Wort, und ich schicke Euch jemanden für Euren geliebten Bran.«
»Maester Luwin tut alles, was für Bran zu tun ist«, erklärte sie ihm. Sie wollte nicht über Bran sprechen, nicht hier, nicht mit diesen Männern. Sie vertraute Kleinfinger nur wenig und Varys überhaupt nicht. Diesen beiden wollte sie ihre Trauer nicht offenbaren. »Lord Baelish sagt, ich hätte es Euch zu verdanken, dass man mich hergebracht hat.«
Varys kicherte wie ein kleines Mädchen. »O ja, ich vermute, dass es meine Schuld ist. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir, freundliche Lady.« Er ließ sich auf einen Stuhl herab und legte die Hände ineinander. »Ich frage mich, ob wir Euch die Unannehmlichkeit zumuten dürfen, uns den Dolch zu zeigen?«
Catelyn Stark starrte den Eunuchen mit sprachlosem Unglauben an. Er war eine Spinne, dachte sie, ein Zauberer oder Schlimmeres. Er wusste Dinge, die unmöglich jemand wissen
konnte, es sei denn … »Was habt Ihr mit Ser Rodrik gemacht ?«, verlangte sie zu wissen.
Kleinfinger war verdutzt. »Ich fühle mich etwas wie ein Ritter, der ohne seine Lanze zur Schlacht erscheint. Von welchem Dolch ist hier die Rede? Wer ist Ser Rodrik?«
»Ser Rodrik Cassel ist Waffenmeister auf Winterfell«, erklärte Varys. »Ich versichere Euch, Lady Stark, dem guten Ritter ist nicht das Mindeste geschehen. Er besuchte uns am frühen Nachmittag. Er war bei Ser Aron Santagar in der Waffenkammer, und sie haben sich über einen bestimmten Dolch unterhalten. Bei
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