Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
durchschneiden.«
»Das sind nicht meine Brüder«, fuhr Jon ihn an. »Sie hassen mich, weil ich besser bin als sie.«
»Nein. Sie hassen dich, weil du dich benimmst, als wärst du etwas Besseres als sie. Sie sehen dich an und sehen einen bei Hofe erzogenen Bastard, der sich für einen Lord hält.« Der Waffenschmied beugte sich vor. »Du bist kein Lord. Denk daran. Du bist ein Schnee, kein Stark. Du bist ein Bastard und ein Raufbold.«
»Ein Raufbold?« Fast blieb Jon das Wort im Halse stecken. Die Anschuldigung war derart ungerecht, dass ihm der Atem stockte. »Die anderen haben sich über mich hergemacht. Zu viert.«
»Vier, die du auf dem Hof erniedrigt hast. Vier, die sich wahrscheinlich vor dir fürchten. Ich habe dich kämpfen sehen. Für dich ist es keine Übung. Mit einer guten Klinge an deinem Schwert wären sie mausetot. Du weißt es, ich weiß es, sie wissen es. Du lässt ihnen nichts. Du beschämst sie. Bist du stolz darauf?«
Jon zögerte. Er war tatsächlich stolz darauf, wenn er siegte. Warum auch nicht? Doch selbst das nahm ihm der Waffenschmied und ließ es klingen, als täte er etwas Böses. »Sie sind alle älter als ich«, sagte er zu seiner Verteidigung.
»Älter und größer und stärker, das stimmt. Ich wette, euer Waffenmeister hat dich auf Winterfell gelehrt, wie man gegen größere Männer kämpft. Wer war er, ein alter Ritter?«
»Ser Rodrik Cassel«, antwortete Jon argwöhnisch. Es war eine Falle. Er spürte, wie sie sich um ihn schloss.
Donal Noye beugte sich vor bis an Jons Gesicht. »Und nun denk über Folgendes nach, Junge. Keiner der anderen hat jemals einen Waffenmeister gehabt, bis Ser Allisar kam. Ihre Väter waren Bauern und Kutscher und Wilderer, Schmiede und Bergarbeiter und Ruderer auf Handelsgaleeren. Was sie vom Kämpfen verstehen, haben sie zwischen den Decks gelernt, in den Gassen von Altsass und Lennishort, in Bordellen am Straßenrand und Tavernen am Königsweg. Sie mögen vielleicht ein paar Holzstöcke aneinandergeschlagen haben, bevor sie hierherkamen, aber ich versichere dir, dass von zwanzig kein Einziger je reich genug war, ein echtes Schwert zu besitzen.« Er zog ein grimmiges Gesicht. »Und wie schmecken Euch Eure Siege nun, Lord Schnee?«
»Nennt mich nicht so!«, entgegnete Jon scharf, doch sein Zorn hatte nicht mehr dieselbe Kraft. Plötzlich verspürte er Scham und Schuldgefühle. »Ich habe nie … ich dachte nicht …«
»Du solltest besser anfangen zu denken«, warnte ihn Noye. »Entweder das oder mit einem Dolch am Bett schlafen. Nun geh.«
Als Jon aus der Waffenkammer kam, war es schon fast Mittag. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen. Er wandte ihr den Rücken zu und sah zur Mauer hoch, die blau und kristallin im Sonnenlicht strahlte. Selbst nach all diesen Wochen lief ihm bei ihrem Anblick nach wie vor ein Schauer über den Rücken. Jahrhunderte von wehendem Schmutz hatten sie vernarbt und poliert, sie wie mit einem Schleier überzogen, und oftmals schien sie hellgrau wie die Farbe eines bedeckten Himmels … doch wenn die Sonne an einem schönen Tag auf sie fiel, dann leuchtete sie, wurde lebendig, eine gigantische, blauweiße Klippe, die den halben Himmel ausfüllte.
Der größte Bau, den Menschenhände je errichtet hatten, wie Benjen Stark Jon auf dem Königsweg erklärt hatte, als
die Mauer aus der Ferne zum ersten Mal zu sehen war. »Und zweifellos der nutzloseste«, hatte Tyrion Lennister mit einem Grinsen hinzugefügt, doch selbst der Gnom schwieg, als sie näher kamen. Man konnte sie meilenweit sehen, ein hellblauer Strich am nördlichen Horizont, der sich von Ost nach West erstreckte und in der Ferne verschwand, immens und lückenlos. Das ist das Ende der Welt, schien sie zu sagen.
Als sie schließlich die Schwarze Festung entdeckten, sahen dessen hölzerne Palisaden und steinerne Türme fast wie eine Hand voll Bauklötze aus, die dort im Schnee verstreut lagen, unter der endlosen Mauer aus Eis. Die alte Festung der schwarzen Brüder war kein Winterfell, eigentlich gar keine Burg. Ihr fehlten Mauern, sie war nicht zu verteidigen, nicht nach Süden hin, nach Osten oder Westen, doch war es nur der Norden, der die Nachtwache beschäftigte, und im Norden ragte die Mauer auf. Fast siebenhundert Fuß war sie hoch, drei Mal so hoch wie der höchste Turm der Festung, die sie schützte. Sein Onkel sagte, oben sei sie so breit, dass ein ganzes Dutzend Ritter nebeneinander herreiten konnten. Die kahlen Umrisse mächtiger Katapulte und
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