Das Lied von Eis und Feuer 6 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 6 - A Storm of Swords. Book Three of A Song of Ice and Fire (2)
Pfeil noch, dann ruhe ich mich aus, sagte er sich ein halbes hundert Mal, nur noch einen. Wenn sein Köcher leer war, brachten ihm die Waisen aus Mulwarft einen vollen. Einen Köcher noch, dann bin ich fertig. Lange konnte es bis zur Dämmerung nicht mehr dauern.
Als der Morgen schließlich anbrach, bemerkte es zunächst niemand. Die Welt war weiterhin dunkel, doch das Schwarz
wandelte sich zu Grau, und halb sichtbare Formen tauchten aus der Finsternis auf. Jon senkte den Bogen und starrte hinüber zu den Wolkenmassen am Osthimmel. Dahinter meinte er einen Lichtschein zu erkennen, aber vielleicht träumte er ja nur. Er legte den nächsten Pfeil auf.
Dann brach die aufgehende Sonne durch die Wolken und schickte ihre bleichen Strahlen auf das Schlachtfeld herab. Jon stockte der Atem, als er auf den halbmeilenbreiten gerodeten Streifen zwischen Mauer und Waldrand blickte. In einer halben Nacht hatte er sich in eine Wüstenei aus schwarzem Gras, brodelndem Pech, zersprungenen Steinen und Leichen verwandelt. Die Kadaver der verbrannten Mammuts zogen bereits die Krähen an. Auch tote Riesen lagen am Boden, doch hinter ihnen …
Links von ihm stöhnte jemand, und er hörte Septon Cellador sagen: »Mutter sei uns gnädig, oh. Oh, oh, oh, Mutter sei uns gnädig .«
Unter den Bäumen hatten sich alle Wildlinge der Welt versammelt, Räuber und Riesen, Warge und Leibwechsler, Bergmenschen, Salzmeerseeleute, Eisflusskannibalen, Höhlenbewohner mit bemalten Gesichtern, Hundewagen von der Eisigen Küste, Hornfußmänner mit Sohlen wie gehärtetes Leder – all das eigenartige, wilde Volk, das Manke versammelt hatte, um die Mauer zu überwinden. Dies ist nicht euer Land, wollte Jon ihnen zurufen. Hier ist kein Platz für euch. Geht fort. Er konnte Tormund Riesentod darüber lachen hören. »Du weißt gar nichts, Jon Schnee«, hätte Ygritte gesagt. Er ballte die Schwerthand zur Faust, öffnete und schloss die Finger, und dabei wusste er genau, dass Schwerter hier oben nicht zum Einsatz kommen würden.
Ihm war kalt, er fühlte sich fiebrig, und plötzlich wurde ihm der Langbogen zu schwer. Die Schlacht gegen den Magnar war gar nichts gewesen, erkannte er, und dieser nächtliche Kampf nur ein Vorspiel, eine Kostprobe, ein Dolch im Dunkeln. Die wirkliche Schlacht begann gerade erst.
»Ich hätte nie gedacht, dass es so viele sein würden«, sagte Satin.
Jon schon. Er hatte sie gesehen, allerdings nicht so, nicht in Schlachtordnung aufgestellt. Auf dem Marsch hatte sich die Kolonne der Wildlinge über viele Meilen erstreckt wie ein riesiger Wurm, aber niemals hatte man alle Krieger auf einmal gesehen. Doch jetzt …
»Da kommen sie«, sagte jemand mit heiserer Stimme.
Mammuts bildeten die Mitte der Wildlingsfront, hundert oder mehr, mit Riesen auf dem Rücken, die Keulen und riesige Steinäxte hielten. Weitere Riesen liefen neben ihnen her und schoben einen Baumstamm auf gewaltigen Holzrädern, dessen Ende angespitzt war. Ein Rammbock, dachte er düster. Wenn das Tor unten bis jetzt standgehalten hatte, würden einige Küsse von diesem Ding es in Kleinholz verwandeln. Auf beiden Seiten wurden die Riesen von einer Horde Reiter in Lederharnischen und mit feuergehärteten Speeren begleitet, dazu von einer Menge Bogenschützen und Hunderten Kriegern zu Fuß, die mit Speeren, Schleudern, Keulen und Lederschilden ausgerüstet waren. Die Knochenwagen von der Eisigen Küste klapperten an den Flanken voran und holperten hinter den weißen Hundegespannen über Stock und Stein. Der Zorn der Wildnis, dachte Jon, während er auf die Dudelsäcke, das Hundegebell, das Trompeten der Mammuts, das Gebrüll der Riesen in der Alten Sprache und das Pfeifen und Kreischen des freien Volkes lauschte. Die Trommeln hallten wie grollender Donner vom Eis wider.
Er spürte die Verzweiflung um sich herum. »Das müssen hunderttausend sein«, jammerte Satin. »Wie können wir so viele aufhalten?«
»Die Mauer wird sie aufhalten«, hörte Jon sich selbst sagen. Er drehte sich um und wiederholte es lauter: »Die Mauer wird sie aufhalten. Die Mauer verteidigt sich selbst. « Hohle Worte, trotzdem musste er sie sagen, denn seine Brüder brauchten diese Ermutigung. »Manke will uns mit seiner Zahl entmutigen.
Hält er uns für dumm ?« Inzwischen brüllte er, hatte sein Bein vergessen, und jeder Mann hörte ihm zu. »Die Streitwagen, die Reiter, all diese Narren zu Fuß … Was sollen sie uns hier oben anhaben können? Hat einer von euch schon mal ein Mammut
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