Das Lied von Eis und Feuer 6 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 6 - A Storm of Swords. Book Three of A Song of Ice and Fire (2)
erzählen.« Jaime betrachtete den Schornstein, der aus dem Unkraut ragte, und fragte sich, ob der Mann je Enkel bekommen hatte. Hat er ihnen erzählt, der Königsmörder habe einst sein Bier bei ihm getrunken und seinen Käse und seine Äpfel gegessen, oder hat er sich geschämt zuzugeben, meinesgleichen bedient zu haben? Er würde es nie erfahren, denn wer immer das Gasthaus in Brand gesteckt hatte, hatte die Enkel vermutlich kaum verschont.
Er konnte fühlen, wie sich seine Phantomfinger zur Faust ballten. Stahlbein meinte, sie sollten vielleicht ein Feuer anzünden und etwas essen, aber Jaime schüttelte den Kopf. »Dieser Ort behagt mir nicht. Wir reiten weiter.«
Gegen Abend hatten sie den See verlassen und folgten einem zerfurchten Weg durch einen Eichen- und Ulmenwald. Jaimes Stumpf pochte dumpf, als Stahlbein entschied, das Lager aufzuschlagen. Glücklicherweise hatte Qyburn einen Schlauch Traumwein dabei. Während Walton die Wachen aufstellte, streckte sich Jaime am Feuer aus und lehnte ein aufgerolltes Bärenfell an einen Baumstumpf, um es als Kissen zu benutzen. Das Mädel hätte ihm gesagt, er solle vorm Schlafen etwas essen, damit er bei Kräften bliebe, doch die Müdigkeit war größer als der Hunger. Also schloss er die Augen und hoffte, von Cersei zu träumen. Die Fieberträume waren immer so eindringlich …
Nackt und allein stand er da, umgeben von Feinden, eingeschlossen von Steinwänden, die ihn bedrängten. Der Stein , das wusste er. Er spürte das riesige Gewicht auf seinem Kopf lasten. Er war zu Hause. Er war zu Hause und unversehrt.
Er hielt die rechte Hand in die Höhe, bewegte die Finger und spürte die Kraft, die in ihnen steckte. Es war so schön, wie bei einer Frau zu liegen. So schön wie Fechten. Vier Finger und ein Daumen. Er hatte nur geträumt, dass er verstümmelt war, in Wirklichkeit war es nicht so. Vor Erleichterung wurde ihm schwindelig. Meine Hand, meine gute Hand. Nichts konnte ihm etwas anhaben, solange er unversehrt war.
Um ihn herum standen ein Dutzend großer, dunkler Gestalten mit Roben, deren Kapuzen ihre Gesichter verbargen. In ihren Händen hielten sie Speere. »Wer seid ihr?«, verlangte er zu wissen. »Was habt ihr in Casterlystein zu suchen?«
Sie gaben keine Antwort, stießen lediglich mit den Speerspitzen nach ihm. Ihm blieb keine andere Wahl, er musste hinabsteigen. Einen verschlungenen Gang eilte er entlang, schmale Stufen hinab, die aus dem urwüchsigen Fels geschlagen waren, hinunter und noch tiefer hinunter. Ich muss nach oben, mahnte er sich. Nach oben, nicht nach unten. Warum steige ich hinunter? Unter der Erde erwartete ihn sein Verhängnis, das wusste er mit jener Sicherheit, die dem Traum zu eigen ist, etwas Dunkles und Fürchterliches lauerte dort, etwas, das ihn haben wollte. Jaime wollte stehen bleiben, doch die Speere stießen ihn weiter voran. Wenn ich nur mein Schwert hätte, könnte mir nichts etwas anhaben.
Die Treppe endete abrupt in einer hallenden Dunkelheit. Jaime spürte eine riesige Leere vor sich. Ruckartig blieb er stehen und wankte am Rande des Nichts. Ein Speer stach ihm ins Kreuz und stieß ihn in den Abgrund. Er schrie, doch der Fall war kurz. Dann landete er auf Händen und Knien weich auf Sand und in seichtem Wasser. Unter Casterlystein gab es Höhlen mit unterirdischen Seen, diese jedoch war ihm fremd. »Was für ein Ort ist das?«
»Dein Platz.« Die Stimme warf ein Echo, es waren hundert Stimmen, tausend, die Stimmen aller Lennisters seit Lenn dem Listigen, der in der Dämmerung der Zeit gelebt hatte. Vor allem drang die Stimme seines Vaters durch; und neben
Lord Tywin stand seine Schwester, bleich und wunderschön, und hielt eine Fackel in der Hand. Joffrey war ebenfalls da, ihr gemeinsamer Sohn, und hinter ihnen ein Dutzend dunklerer Gestalten mit goldenem Haar.
»Schwester, warum hat Vater uns hierhergebracht?«
»Uns? Dies ist dein Platz, Bruder. Dies ist deine Dunkelheit.« Ihre Fackel war das einzige Licht in der Höhle. Ihre Fackel war das einzige Licht in der Welt. Sie wandte sich zum Gehen.
»Bleibt bei mir«, bat Jaime. »Lasst mich hier nicht allein.« Aber sie gingen. »Lasst mich nicht im Dunkeln allein!« Hier unten hauste etwas Schreckliches. »Gebt mir wenigstens ein Schwert.«
»Ich habe dir ein Schwert gegeben«, sagte Lord Tywin.
Es lag zu seinen Füßen. Jaime tastete im Wasser herum, bis sich seine Hand um das Heft geschlossen hatte. Solange ich ein Schwert habe, wird mir nichts etwas anhaben.
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