Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
abgenommen.
»Du bist ja nackig.«
Anevay klappte der Mund auf, dann huschte sie erschrocken zurück, griff nach dem Hemd, das über der Stuhllehne hing und zog es so hastig an, dass sie sich in den Ärmeln verhedderte. ›Oh, bei den heiligen Sandbäumen, das hatte doch wohl nicht auch Robert bemerkt?‹ Sie hatte sich auf Briefe eingestellt, nicht auf ein persönliches Gespräch, bei dem man den anderen auch noch sehen konnte. Sie war zu aufgeregt, hatte schlichtweg vergessen, sich etwas anzuziehen. Sie setzte sich wieder auf den Boden vor das Bett, auf dem das Labyrinth lag. Der süße Kerl war noch immer da, jetzt schaute er allerdings wie ein echter Schelm drein.
»Besser?«, murmelte sie leise. »Hat er mich auch so gesehen?« Sie wollte eigentlich lieber keine Antwort darauf. Das putzige Wesen stellte sich auf alle Viere, kratzte sich mit einem Blick, den wohl jeder hatte, wenn etwas übel juckte, und zuckte, nachdem er fertig war, mit den Schultern … soweit das möglich war.
»Ich sag mal so, du hast einen ziemlich bleibenden Eindruck hinterlassen.«
Hitze stieg in ihr auf, schöne Hitze.
Der kleine Kerl schaute sich um, als wolle er prüfen, dass ihn ja niemand hören konnte.
»Hat die halbe Nacht deine Zeichnung angestarrt, als wäre darin etwas versteckt, das er nicht finden kann. Macht er sonst nicht, das ist mal klar.« Er setzte eine verschwörerische Miene auf. »Menschen interessieren ihn nicht besonders, weißt du. In seinem Kopf wohnen Winterwolken, haben sie in der Schule zu ihm gesagt.« Das Fellknäuel verstummte jäh, zu viel geplaudert, das sagten seine Augen jetzt. Er spähte an ihr vorbei, als nehme er den Raum neben und hinter ihr genau in Augenschein. Als habe er es vergessen, obwohl es doch wichtig war. »Ist noch nicht da, verdammich«, flüsterte er über seine Schulter in den dunklen Hintergrund. Ein Geräusch ließ sie beide zusammenzucken. Das niedliche Tier wedelte hektisch mit den Vorderpfoten herum.
»Ich war nie hier und mich gibs auch gar nicht, klar?« Er wollte schon davonflitzen, blieb noch einmal stehen. »Ich bin Poe! Aber trotzdem gibs mich nicht.« Damit verschwand das kleine Wunder und für einen Moment fragte sich A, ob diese Begegnung wirklich geschehen war. Doch konnte sie darüber nicht ihr Herz befragen, denn schwere Schritte kamen, nur einen Moment später kehrte Robert zurück. Nur anders. Jetzt hatte er einen Dreispitz auf, ein Tuch vor Mund und Nase. ›Was waren das für Dinge?‹ Krallen, einen Mantel wie eine Verkleidung, eben jene Dinge, von der A erst kürzlich in einer Zeitung gelesen hatte. Sie hatte es geahnt, nein, gewusst. The Night Captain.
»Ich stecke in Schwierigkeiten, Anevay.« Er zog die Sachen wieder aus und warf sie neben sich, als wären sie tonnenschwer.
»Was kann ich tun?« Sie fragte es einfach, es erschien ihr logisch, sicher, bedeutend. Sie wollte ihn berühren. Er blickte in ihre Augen wie mit einem dunklen Speer.
»Die Verbindung zwischen uns wird erlöschen.«
»Was?« Sie konnte kaum atmen. Nein!
»Der Stein, der dein Labyrinth mit Energie versorgt, ist sehr alt, er wird bald aufhören, Magie zu erschaffen. Ich weiß nicht, was für ein Stein dort drin ist, aber er muss irgendwie mit meiner Familie in Verbindung stehen, anders kann ich es mir nicht erklären. Wo hast du es her?«
»Es war, nein, ist ein Kompass, der in einem Schließfach eingeschlossen war, wohl über fünfzig Jahre. Mein Vater hat ihn für mich dort versteckt, nehme ich an, ich weiß es nicht. Eines Nachts ist er einfach so angegangen, fächerte auseinander und wurde zu einem Labyrinth, anders kann ich es nicht beschreiben. Ein Zauberer hat ihn geprüft, er sei aus dem Nordischen Feuerbund , aber man gab ihn mir wieder, da er keine Magie in sich hatte.« Ihr Kopf tat plötzlich weh.
»Rätsel, ein Nebel voller Rätsel«, sinnierte Robert und rieb sich das stoppelige Kinn. »Die Magie geht neuerdings ihre eigenen Wege, so scheint es mir. Meine Schwester könnte darüber mehr erzählen als ich, aber es ist wie es ist: Dein Labyrinth wird sterben.«
»Nein!«, wimmerte sie plötzlich. »Das darf nicht sein. Ich habe sonst niemanden, der mir zur Seite steht, ich bin allein, immer nur allein!« Sie holte schluchzend Luft. »Es muss eine Möglichkeit geben. Kann ich nicht einen anderen Stein nehmen, ihn auswechseln? Bitte!«
Er sah sie traurig an und sie wusste, dass es keine Möglich-keit geben würde.
»Du bist keine Zauberin, Anevay. Das spüre ich
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