Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
frisch, dass der Schnee sie noch nicht komplett zugedeckt hatte. Der Niederschlag darunter war zu dünnem Eis geschmirgelt worden, dieses Phänomen entstand nur durch Geschwindigkeit. Das trübe Licht der Laterne warf einen harten Schatten in die gezackten Rillen und auf die Vortreppe. A atmete tief ein.
Im Haus war es still, sie stieg die Stufen hinauf, so leise sie konnte. Vor Francescas Tür verharrte sie. Sie konnte die Männer fast riechen. Da war der Duft von Zedern, sie schloss die Augen, Kamille, Rose und Schmieröl für Waffen. Und Blut.
Die Tür war nicht verschlossen wie sonst, sondern hing unheilvoll zwischen Zarge und Rahmen. Sie drückte sie auf. Das Licht im Flur erlosch. Sie zog ihre Schuhe aus.
Anevay entdeckte Francesca auf dem Sofa, zusammengesunken wie etwas, das man weggeworfen hatte. Der Anblick war eiskalt, trotz der Farben, denn Rinnsale frischen Blutes liefen ihr an den Wangen hinab in den zerrissenen Ausschnitt ihrer Bluse. Ihr Gesicht war für immer entstellt. A atmete wieder aus. Durch zwei tiefe Schnitte schimmerten weiße Wangenknochen aus klaffenden Wunden, zertrennter Haut, die blassen Hände, die auf ihren Knien ruhten, waren verkrampft.
»Manchmal ist das Leben echt scheiße, was?« Francesca sagte es, als wäre alles nur ein bedauerliche Unfall.
Aber es gab Momente im Leben eines Menschen, die einen ohne anzuhalten direkt in die Hölle beförderten, die so ganz und gar nicht edel waren, so dass sie nur in der Dunkelheit existieren wollten. Weil sie Wege auslöschten.
In diesem Moment beschritt Anevay eben diesen Weg, ganz still und völlig unbemerkt.
»Sieht ganz so aus.« A schnaufte ergeben. »Dann bringe ich dich mal ins Krankenhaus.«
Es gab keine Widerworte.
Gut so.
›Ich vermisse deine Worte‹, dachte sie. Doch schien dies ein anderes, zweites Leben zu sein, weit weg, von tausenden von Wellen getrennt. A saß neben dem Bett, in dem Francesca schlief. Das Gesicht war mit Mullbinden umwickelt, auf der einen Seite sickerte Blut durch den Stoff. Eine andere Frau im Nebenbett stöhnte im Schlaf, es roch nach Medizin, Desinfektionsmitteln und sauberer, gestärkter Wäsche. Das Licht war gedimmt, hing im Raum wie ein Geist, der sich nicht entscheiden konnte, ob er leben oder verschwinden wolle. Wie passend.
»Es war Gottes Wille, Nove. Sei nicht wütend, bitte.« Francescas geschwollene Lippen bewegten sich kaum. A hatte gar nicht gewusst, dass ihre Ziehmutter gläubig war.
»Ein seltsamer Gott, wenn du mich fragst.« A sprach leise, mehr zu sich selbst, sie hatte keine Kraft mehr.
»Niemand weiß, was er uns damit sagen will, das ist seine Art! So ist es nun einmal.« Anevay lächelte ein verlorenes Lächeln. Ja, es gab immer einen Grund, eine Rechtfertigung. Für alles. Jemand hatte mit einem scharfen Messer Francescas Wangen bis auf die Knochen aufgeschlitzt, weil er sich als Kind mal die Knie aufgeschlagen und niemand ihn getröstet hatte oder weil der viele Schnee auf sein Gemüt drückte. Vielleicht hatte er auch einfach nur miese Laune gehabt und geglaubt, mit ein wenig Blut würde der Tag besser werden, wer wusste das schon. Aber das war nicht das, was sie glaubte. Das waren billige Ausreden, nichts weiter. A war in dem Glauben aufgewachsen, dass die Natur, die ganze Welt, ein See war, der jedes Wort trank, jede Tat mit seinem Wasser umfing, jeden Gedanken in sich aufnahm. Und wenn man sein Gesicht über ihn beugte, dann zeigte er einem, wer man wirklich war. Nicht Gott wandelte auf Erden, sondern die Menschen taten es. Und Menschen wollten immer etwas. Meist war es Blut oder Gold, oft eine Kombination aus beiden Dingen. So sah die Sache aus.
»Mein Vater …«, A sah, dass Francesca wieder eingeschlafen war. Sie stand auf, öffnete die Tür und trat auf den Flur. Nick der Schmale saß dort, noch immer im Smoking. Dozer hockte neben ihm und blätterte in einem Comicroman.
»Kann mich einer von euch nach Hause fahren? Ich muss hier raus!«
Auf der Fahrt erfuhr sie, dass dies vermutlich das Werk von Wild Billy Wild gewesen war. Er hatte Szuda Francesca schon mehrmals abwerben wollen. Doch sicher war man sich nicht.
Wild Billy Wild. Diesen Namen sollte sie sich besser merken.
A legte die Riegel vor die Tür und sank erschöpft dagegen. Ihre Gedanken taten weh. Sie zog im Gehen ihre Kleidung aus, ließ sie liegen, wo sie eben hin fiel. Sie machte kein Licht an, sie brauchte die Dunkelheit, um sich darin zu verstecken. Sie wollte weinen, aber es gelang
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