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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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zwei Stündchen ausruhen, dann würde ich weiter gegen sizilianische Wände anrennen. Doch ich fand keinen Schlaf, immer wieder sah ich das Gesicht des Alten aus dem Rahmenladen vor mir und hörte sein abfälliges »Ah! Bellone!« in meinen Ohren. Mein Vater war aus seiner Heimatstadt gewissermaßen hinausgeworfen worden, er war gewalttätig und hatte sich verantwortungslos benommen. Mit einmal erschien mir sein lautes Lachen, das so häufig unser Haus erfüllt hatte, brutal. Seine gönnerhafte Art, sein lockerer Umgang mit Geld, seine ausladenden Gesten? Alles Angeberei. Fing er nicht mit allen Nachbarn Streit an? Und war es vor ein paar Jahren nicht mal zu einer Klage wegen Körperverletzung gegen ihn gekommen, von dem Pizzabäcker mit dem Ziegenbärtchen aus Padua? Wie hatte der noch mal geheißen?
    Bellone, ah!, sagte die Stimme des Alten. Ich war eine Bellone... Die Gedanken ließen mich nicht in Ruhe. Um mich abzulenken, holte ich die kleine Bibel zu mir ins Bett, klappte das Geheimfach auf und las den Brief an Mamma noch einmal. Die Worte hatten ihre Kraft nicht verloren, sie waren tröstlich, doch wie beim ersten Lesen kamen mir die Tränen. Schnell wischte ich sie mit dem Betttuch ab. Wie sentimental, ein uralter Liebesbrief brachte mich zum Weinen! Ich zog die Knie an und machte mich ganz klein. Ein Schluchzen rüttelte mich von innen durch. Und nun weinte ich wirklich. Ich weinte um Finú und meine Mutter und die Liebe, die die beiden miteinander erlebt hatten. Ich weinte um Matilde, die man mir weggenommen hatte und die mir
kein Amt auf Sizilien wiedergeben würde. Ich weinte um mich, um Phil. Unsere Zeit war vorbei, wir würden uns nie wiedersehen. Ich würde auch nie wieder aufstehen können, so weinte ich.
    Plötzlich hörte ich auf, ich schniefte noch ein paar Mal, und dann hörte ich mich mit seltsam rauer Stimme kurz auflachen. Vor dem Spiegel im Bad putzte ich mir energisch die rote Nase und betrachtete meine fleckigen Wangen. Ich warf mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Dieser Ausbruch hatte richtig gutgetan! Gestärkt setzte ich mich wieder auf das Bett und ließ meine Augen durch das Zimmer schweifen. Zia Pinas Seiten waren auf den Boden vor den Nachttisch gerutscht. Ich hob sie auf und ging langsam mit ihnen zum Fenster.
    Die Mittagssonne traf das brüchige Papier, Stockflecken hatten sich darüber ausgebreitet, braune Tupfen, wie das bleiche Fell eines Leoparden.
    Meine Augen überflogen Zia Pinas Eintrag vom 16. März:
    Maria singt und pfeift immerzu, sie läuft herein und heraus und macht mich ganz irr. Wenn sie nicht singt oder summt, träumt sie lächelnd vor sich hin - sie steht mit dem Lappen in der Hand am Fenster, und wenn ich sie nicht ermahnen würde, würden wir nie fertig mit dem Putzen... und so weiter.
     
    Der 17. März:
    Bis eben war Maria so glücklich, gestern bat sie endlich den Mut gehabt, mir von ihrem heimlichen Schatz zu erzählen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich es schon lange weiß! ... und so weiter.

    Der 19. März:
    Konnte gestern nicht schreiben, denn ich ahnte es. Habe sie draußen gesucht, die Leute auf dem Platz gefragt, wo schon die Buden für das Fest aufgebaut wurden. Ich saß bis nachts draußen vor der Tür, in eine Decke gewickelt, es war kalt.
    Danach waren die Einträge unleserlich. Warum hatte Zia Pina bloß mit Bleistift schreiben müssen? Kein Wunder, dass davon nichts mehr zu erkennen war. Ich drehte das Blatt, das Licht brach sich auf der fleckigen, vergilbten Oberfläche. Doch! Da stand etwas. Und dort auch. Auf einmal tauchten aus den unleserlichen Bleistiftspuren Worte auf. Ich suchte nach einem Kugelschreiber und notierte alles, was ich entziffern konnte, auf Matildes Malblock:
    ... abholen, aber sie kam zu spät -
... er kannte meinen Namen,
Ihre Tochter ist in guten Händen...
... glaube nicht an eine fuitima d’amuri
    Ich sah durch die Scheibe des Fensters nach oben in den gleißend hellen Mittagshimmel. Fuitina d’amuri. Allein diese Worte hatte Zia Pina im Dialekt geschrieben. D’amuri war klar, irgendwas mit Liebe, aber die Bedeutung von fuitina kannte ich nicht, mein Sizilianisch war alles andere als perfekt. Glück der Liebe? Nein. Macht der Liebe? Die langen Is bohrten sich in meinen Bauch, als ich das Wort noch einmal vor mich hin wisperte, um seine Bedeutung zu ergründen: »Fuiitiiina«. Ich studierte das zweite Blatt. Auch hier die schwachen Rückstände von Wörtern, sogar von ganzen Sätzen. Ich machte mich daran,

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