Das Limonenhaus
Mamma Maria anrufen und in den Hörer flüstern, dass es mir leidtäte und dass ich erst jetzt alles begreifen könnte.
»Ich verstehe, warum du nie mit ihm an einem Tisch gegessen hast«, wollte ich ihr sagen, »ich weiß jetzt, warum das ›traurige Tier‹ dich manchmal anspringt und dich tagelang zu Boden drückt! Kannst du mir meine Ruppigkeit, meine Ungeduld und meine Dummheit verzeihen?«
Sie war brutal vergewaltigt worden, und danach? Danach war es weitergegangen, über Wochen und Monate lang, immer
wieder. Er konnte mit ihr machen, was er wollte, denn sie hatte ihn geheiratet, in Schwarz, morgens um sechs, vor der Messe, wie eine Sünderin, die einen Fehltritt begangen hatte. Ich konnte nicht schlafen. Ich zog dicke Socken und meinen langen, weichen Pullover an, der mir wie ein Kleid fast bis zu den Knien reicht, setzte mich ans Fenster und starrte in die Dunkelheit. Warum hatte mein Vater das getan? Wie hatte Mamma Maria das alles nur ausgehalten? Und wer war dieser Finú?
Kapitel 28
PHIL
Endlich, mit zwei Stunden Verspätung, legte die Fähre von Grandi Navi Veloce ab. Auch die Ankunft morgen Abend in Palermo verschob sich um zwei Stunden, erst gegen 23 Uhr würde ich in Bagheria eintreffen. Wo sollte ich sie dann noch finden? Wo sollte ich überhaupt suchen?
Ich stand an der Reling und schaute auf Genuas Hafen, bis die Lichter zu einem glitzernden Saum am Rande des Himmels geworden waren. Ab jetzt hatte ich zweiundzwanzig Stunden totzuschlagen. Systematisch erkundete ich das Schiff. Auf dem oberen Deck, neben dem gigantischen Schornstein, führten die Menschen ihre Hunde aus, bevor die Tiere zurück in die Zwinger mussten. Die Hunde bellten verwirrt, der vibrierende Schiffsboden unter ihren Pfoten missfiel ihnen offenbar. Ich marschierte weiter. Zwei Kinos, drei Speisesäle, drei Bars und viele kleine Läden, vollgestopft mit Sachen, die man nur aus Langeweile kauft. Pärchen mit ineinander verschlungenen Händen zogen wie ich ihre Bahnen. Paare mit Kindern hatten ihre Hände nicht mehr frei füreinander, Mamma schob den Buggy mit dem Kleinen, Papa trug das größere Kind auf dem Arm. Ich beneidete sie ausnahmslos. In der Bar auf dem zweiten Deck
trank ich in den nächsten zwei Stunden vier Flaschen eines dünnen italienischen Bieres und hörte Gesprächen zu, ohne ein Wort zu verstehen. Dann suchte ich meinen Sitz zum Schlafen. Es war die Nummer 277 auf Deck B. Wir stampften Sizilien entgegen.
Kapitel 29
LELLA
Nur ganz früh, bevor die Vögel wach wurden, war in meinem Zimmer das gleichmäßige Motorbrummen der Fischerkähne zu hören. Also muss es vor fünf sein, du hast keine vier Stunden geschlafen, und Matilde ist weg, dachte ich, noch bevor ich die Augen öffnete. Auch die Erinnerung an das, was ich gestern erfahren hatte, war sofort wieder da und bohrte mit vertrauter Heftigkeit in meinen Eingeweiden herum. Ich wollte meinen Vater nie wieder sehen. Doch darüber würde ich später noch nachdenken können, jetzt musste ich mich auf Matilde konzentrieren. Und auf das Geld, das auf meinem Konto immer weniger wurde. Das Zimmer hier bei Signora Pollini musste bezahlt werden. Wovon sollte ich leben? Dieses Mal konnte ich mich nicht einfach nach Deutschland davonmachen und mich hinter dem Pizzaofen verstecken. Ich wollte nie mehr ins Da Salvatore zurück, ich hatte kein Zuhause mehr. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere. Die Stunden vergingen. Ich versuchte, nicht an Claudio zu denken. Ich versuchte, nicht an Phil zu denken. Einen Moment lang wusste ich nicht, wen ich mehr hasste. Den einen, weil er mich zu einer berechnenden Lügnerin machte, den anderen, weil er meine Gefühle immer
noch so heftig durcheinanderbrachte. Heute war der Tag, an dem sich alles entscheiden würde, hatte Claudio gestern, nachdem ich unterschrieben hatte, gesagt. Und dass ich ihm vertrauen solle, obwohl er auf meine Fragen nicht antworten konnte. »Noch nicht, Lella, noch nicht.«
Der Morgenhimmel vor dem Fenster war klar und von einem ausgedünnten Blau, die Vögel zwitscherten nun aufgedreht. Um zehn erwartete Claudio mich vor der Comune am Corso Umberto. Wir würden zusammen hineingehen, und beim Hinausgehen wäre ich durch eine kleine Unterschrift Matilde ein großes Stück näher gekommen. Verheiratet in Bagheria. Vor vier Jahren hatte ich mir nichts sehnsüchtiger gewünscht, jetzt war es ein eigennütziger Schritt im Kampf um Matilde, von dem ich nicht wusste, wie er ausgehen würde.
Wir brauchten
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