Das Limonenhaus
tiefe, als ob die Erde dort bald auseinanderbrechen wird. Der Abstieg ist steil, einmal bin ich fast abgerutscht. Der Strand ist mit einem Gitter abgesperrt, hinter dem es auch noch mal recht tief hinuntergeht, aber von unten hat man einen atemberaubenden Blick, die Felsen hinauf. Das Wasser ist eiskalt, doch dafür gibt es noch keine Feuerquallen, wie manchmal im Sommer, hat mir ein Engländer erzählt. Danach fuhr ich weiter bis nach Lingua, dort kann man noch die alten Becken der Salzgewinnung sehen. Es gibt einen alten Typ, der führt ein kleines Museum, er hat ein unglaublich faszinierendes Gesicht. Und direkt um die Ecke, bei Alfredo und seinen Söhnen, gibt es die beste granita der Insel.«
»Wer sagt das? Alfredo und seine Söhne?«
»Nein, dort hängen Unmengen von Zeitungsausschnitten, auch auf Deutsch, die habe ich mir durchgelesen.«
Mit neugierigem Blick probierte er von meiner caponata,
um sich dann mit zufriedenem Grinsen eine große Portion auf seinen Teller zu häufen.
Am Nachmittag nahm Phil wieder seine Fototasche und meinen Einkaufszettel für das Abendessen und brach erneut auf, gegen sieben kehrte er zurück. Ich gab Olivenöl in eine Auflaufform, legte Thunfischscheiben hinein und bestrich sie mit einer Paste aus Tomatenwürfeln, gehackten Oliven und Kapern, Semmelbrösel, Salz und Pfeffer. Dann gab ich noch ein bisschen Öl darüber und ließ den Fisch im Backofen garen.
Tief vergrub sich Phil in seinem Lehnstuhl. Er aß langsam, und einmal bemerkte ich beim Rübergucken, dass seine Augen geschlossen waren. Er flüsterte: »Beschreib mir bitte, was du schmeckst.«
Ach du liebe Zeit, wie beschrieb man einem, der nichts roch und gerade mal die vier Geschmäcker auseinanderhalten konnte, wie etwas schmeckt? Nach Fisch. Wie einfallslos. Irgendwie salzig? Nichts schmeckt ausschließlich salzig.
»Es schmeckt nach den grünbraunen Algen, die sich im Winter am Strand um die Füße schlingen, und auch wie das fruchtige Grün der Oliven und das bittere Grün der Kapern. Es schmeckt nach dunklem Meeresrauschen und fischig wie der Wind in den Häfen und... und irgendwie schmeckt man auch die Tomaten, aber dafür fallen mir jetzt keine anderen Worte ein.«
»Ja«, sagte er, »die Tomaten machen mich auch immer sprachlos.«
Kurze Zeit später standen wir am Küchentisch und wischten abwechselnd die Auflaufform mit dicken Weißbrotsstücken aus.
»Ich habe noch nie etwas so Fantastisches probiert«, sagte Phil. »Können wir das Morgen noch mal essen? Ich liebe nämlich Wiederholungen.«
Der vierte Tag. Wieder die Morgensonne und der Geruch des Kaffees in meiner Küche. Wieder Phil, der an meine Tür klopfte und nach dem Frühstück erneut für ein paar Stunden verschwand, jedoch zuverlässig um die Mittagszeit zurückkehrte und wiederum höchst zufrieden seine caponata aß. Er war wirklich ganz versessen auf die süß-sauer eingelegten Zwiebeln, den Staudensellerie, die Auberginen, Oliven und Tomaten.
Sogar Matilde aß drei Gabeln Spaghetti ohne alles und schlief danach zwei Stunden, in denen ich neben ihr auf dem Bett lag und meinen Roman von Margaret Mazzantini beendete. Ich wollte mir gerade den nächsten Roman vornehmen, als ich Mammas kleine Bibel zwischen den anderen Büchern in der Tasche entdeckte. Vorsichtig nahm ich sie heraus. Der Buchrücken hatte sich fast völlig gelöst, ein Stück grobmaschiges Gewebe hing herab. Ich sah mir die Stelle genauer an, vielleicht gelang es mir, alles wieder zusammenzukleben. Der vordere Buchdeckel schien dicker als der hintere zu sein, auch er war ein wenig aufgetrennt. Meine Finger schoben sich zwischen den schwarzen Schutzumschlag und die Pappe. Gleich würde er noch mehr einreißen, und ich hätte es geschafft, die Bibel meiner Mutter weiter zu zerstören. Plötzlich lösten sich Pappe und Umschlag voneinander, der Einband sprang auf und vor mir lag, geschützt im doppelten Boden der Bibelhülle, ein zusammengefalteter Bogen Papier. Ich klappte den Deckel zu und wieder auf, man sah die Verbindungsstelle kaum, ich hatte
ein Geheimfach entdeckt! Eilig faltete ich den Bogen auseinander. Er war dicht beschrieben, die Buchstaben waren mit blauer Tinte auf das Papier gemalt, satte Striche, und das M von ›Maria‹ trug einen verspielten Schnörkel:
Maria, amore della mia vita, luce dei miei occhi.. senso di ogni mio gesto... anima mia...
Mamma!, dachte ich, oder hatte ich es etwa laut gesagt? Ich hielt einen Brief an meine Mutter in den
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