Das Limonenhaus
gehörte:
»Im Flugzeug dachte ich, du wärst mein Bruder, ganz kurz
nur. Aber für diese Sekunde wollte ich mir einbilden, er sei wieder da. Obwohl ich nur deine Hände sehen konnte und die Fototasche natürlich.«
Ich befühlte meine Hände, ich mochte sie, sie waren schon immer groß gewesen.
»Sag mir«, ihre Stimme wurde lauter, »wann ist man glücklich? Bist du glücklich?« Sie erwartete offenbar keine Antwort. »Leonardo war immer glücklich. Er kam überall auf der Welt zurecht. Grazia nie. Seitdem Matilde bei mir ist, muss ich ständig an Grazia denken, an ihre Entscheidung, die sie irgendwann ganz allein für sich in der Anstalt getroffen hat. Ihre Verzweiflung muss so unglaublich groß gewesen sein, sie starb lieber freiwillig, als... als hier unten bei uns zu sein, bei ihrem Kind! Dio, bedeutete das denn wirklich so wenig für sie?«
Weinte sie?
»Sie hat sich umgebracht«, flüsterte sie, »sie hat ihr Leben einfach weggeschmissen. Was soll ich Matilde denn eines Tages sagen?«
Jetzt weinte sie. Ich stand ganz still und wartete auf ihre nächsten Worte.
Lella putzte sich die Nase. »Ich werde mich mein Leben lang dafür schämen, aber ich konnte nichts mit ihr anfangen. Ich glaube, ich war wirklich rücksichtslos damals. Ich war ja andauernd bei ihnen. Dann gackerte ich mit Leonardo herum, wir setzten unsere Kinder-Kampfspiele von früher fort, redeten Deutsch und zogen uns mit den alten Sprüchen auf, mit denen sie nichts anfangen konnte. Es ging mir nur um mein eigenes Glück, aber bitte mit meinem Bruder neben mir!« Sie stieß einen kleinen, verächtlichen Lacher aus. »Ich hing dauernd an seinem Hals, umarmte ihn... Stell dir das
mal vor, du liebst... also, das wäre so, als ob deine Schwester dauernd hier herumsäße... also...«, sie errötete, »natürlich nicht bei uns. Also am Hals von der, die du liebst, hinge... nee, anders herum, der Bruder deiner Freundin... Dio, du weißt schon, wie ich das meine.«
Natürlich wusste ich, wie sie das meinte, trotzdem hatte ich Mühe, nicht zu grinsen.
»Wie konnte ich nur so egoistisch sein? Nie waren die beiden wirklich allein. Das fällt mir drei Jahre später erst auf. Das hat vielleicht etwas mit diesem Haus hier zu tun.«
Sie putzte sich noch einmal geräuschvoll die Nase, während ich mich in meinen Liegestuhl setzte, ohne ihre Gestalt aus den Augen zu lassen. Weich leuchtete ihr helles Gesicht jetzt in der Dunkelheit.
»Ich war so besitzergreifend. Ich versuchte in Leonardos Augen abzulesen, was er in ihr sah, wenn er sie anschaute. Ich war irgendwie eifersüchtig. Ich stellte mir vor, was sie miteinander machten, also im Bett oder so...«
Ihre Verlegenheit gefiel mir. Brigida benutzte gerne derbe Worte. Sie schlug mir mit Freude »ficken«, »Schwanz« und »Möse« wie nasse Wischlappen um die Ohren.
Bitte, benenn’ die Dinge auch weiterhin nicht beim Namen, bat ich Lella wortlos.
»Nicht, dass es mir gelungen wäre. Ich kann mir komischerweise niemanden wirklich dabei vorstellen.« Ich nickte, das ging mir ganz genauso. Obwohl, ich mit ihr? Da funktionierte es recht gut.
»Ich hoffte sogar, sie möge niemals schwanger von ihm werden, so ein Biest war ich!«
Ich stellte mir Lella schwanger vor, von mir natürlich, von wem denn sonst.
»Aber ich hatte umsonst gehofft. Pünktlich, zehn Monate nach der Hochzeit, wurde Matilde geboren. Die Geburt zog sich über Stunden hin. Wir warteten draußen. Grazia hatte Leonardo nicht dabeihaben wollen. Er hatte solche Angst um sie! Er zitterte und schwitzte, sodass ich schließlich anfing, für sie zu beten, um es abzukürzen, um ihn nicht leiden sehen zu müssen. Aber alles war in Ordnung, es hatte einfach nur lange gedauert.« Sie zuckte mit den Schultern und fuhr gleich darauf fort: »Dann, als Grazia nach vielen Stunden endlich ihr Baby im Arm hielt, war sie noch nicht mal glücklich. Ich sehe sie an diesem Nachmittag noch vor mir: Ihre Familie ist an ihrem Bett im Krankenhaus versammelt, um gute Wünsche zu überbringen. Sie ignorieren Leonardo und mich, so gut es geht, sie reden mit kaum gedämpfter Stimme über Palermos Straßenverkehr und zanken über die Zusammensetzung des Essens, das sie ihr von zu Hause mitgebracht haben. Überall liegen rosa überzogene Zuckermandeln in Körbchen herum, und dann wird noch eine alte Tante hereingeführt, die das Kind unbedingt nackt sehen und ihm ein weiteres Glückshemdchen anziehen will, obwohl es schon eines trägt.«
»Glückshemdchen?«,
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