Das Limonenhaus
herrliches Gefühl, und einen Moment lang war ich glücklich.
Kapitel 20
LELLA
Am nächsten Morgen tat mein Kopf scheußlich weh. Bruchstückartige Satzgebilde zogen durch mein Gehirn. Hatte ich zu viel von mir verraten? Hatte ich ihn dazu gedrängt, mir von seiner späten Entwicklung zu erzählen? Warum hatte ich bloß so viel Wein getrunken?
In diesem Moment kam Phil mit einer braunen Papiertüte in der Hand in die Küche. Wortlos griff er in die Tüte und legte mir ein Hörnchen auf meinen Teller. Wahrscheinlich eins mit crema. Meine Lieblingsfüllung.
»Bitte erinnere mich daran, heute Abend auf Wein zu verzichten«, bat ich ihn und presste mit den Händen meine Stirn, um das, was dahinter pochte, zu besänftigen. »Mátti, iss schön die Cornflakes, ja?«
Nach vier Tagen im Bett saß Matilde das erste Mal mit uns am Frühstückstisch. Sie nahm den Löffel und nickte ernsthaft. »Aber vielleicht werden die Cornflakes traurig, wenn ich sie runterschlucke.«
»Die Cornflakes werden nicht traurig, die finden das toll. Alle aus der Schachtel wollen da hinunter, in deinen kleinen Bauch.«
Phil setzte sich und ließ Zucker auf die Schaumhaube seines
Milchkaffees rieseln. Seine Schweigsamkeit ließ mich den Kopf ein wenig einziehen. Dabei atmete meine Nase den wunderbaren Duft seiner Haut ein, der seit der Umarmung der vergangenen Nacht auf meinen Schultern, meinem Hals haftete und den ich heute Morgen nicht hatte abduschen wollen. Noch nicht. Er spielte mit seinem cornetto auf dem Teller herum und warf mir einen kurzen Blick zu, verlegen lächelnd. Ich atmete auf, und es fiel mir schwer, nicht albern vor mich hin zu grinsen, während wir diskutierten, ob es vernünftig wäre, Matilde zu einem Ausflug auf dem Roller mitzunehmen.
Mátti besah sich jeden trockenen Cornflake einzeln, bevor sie ihn in die Milch fallen ließ, mit dem Löffel wieder herausfischte und dann endlich herunterschluckte.
»Der Motor hat zweihundert Kubik, die Berge würden wir damit ohne Weiteres bewältigen«, meinte Phil.
»Und die Sitzbank ist lang genug«, sagte ich. »Wenn sie zwischen uns sitzt und ich sie festhalte, kann sie eigentlich gar nicht herunterfallen.«
»Però!«, rief Phil triumphierend. Er hatte das kleine Wörtchen vor zwei Tagen aufgeschnappt und benutzte es nun, wo er konnte. »Però, wir sind uns beide einig, dass es verboten und viel zu gefährlich ist, nicht wahr?«
»Genau.«
»Schade, ich habe uns auf meinen Fahrten immer zusammen auf diesem Roller gesehen.«
»Ich uns auch«, gab ich zu, »bei mir haben wir auch noch gesungen.«
»Wir können ja im Bus singen«, sagte Phil leise. Ich hob erstaunt den Blick und sah, wie es um seinen Mund zuckte. »War ein Scherz«, rief er, »ich singe schrecklich!«
Später brachte er seinen Computer herüber und zeigte mir die Fotos, die er in den letzten Tagen gemacht hatte. Zwei gebeugte Männer, versunken ins Schachspiel, zwei Jungen auf einem Roller von hinten, eine unscharfe Aufnahme von einem an ein Auto gebundenes Pferd. Szenen der Insel, auf der Straße eingefangen und doch mit einem Blick für das Ausgefallene. Eins gefiel mir besonders: das Gesicht einer alten Frau. Sie schaute direkt in sein Objektiv, unerschütterlich, würdevoll. Ein trockenes, schmerzliches Lächeln, tiefe Falten.
»Wie hast du sie dazu gebracht?«
Er grinste glücklich. »Einfach gefragt.«
»In ihrem Blick liegt ihre ganze Lebensgeschichte. Aber man möchte lieber nicht alles davon wissen.«
»Ich habe noch einige von ihr gemacht, mit der anderen Kamera, analog, also mit richtigen Filmen. Es könnte sein, dass die noch besser geworden sind.«
Es wurde Nachmittag, bis wir den blauen Bus bestiegen, in dem an diesem Tag ein anderer Fahrer hinter dem Steuer saß und wortlos unsere Münzen in Empfang nahm. Wir sangen nicht, dafür machte Matilde Phil auf alles aufmerksam, was sie sah.
»Guarda, Phil!«, sagte sie, »una macchina! Guarda una capra! Guarda là, i fiori ...«
Während ich meinen Kopf an die Sitzlehne sinken ließ und die Augen schloss, wiederholte er »Auto« und »Ziege«, »Blumen« und was sonst noch an unserem Bus vorbeikam. Matilde ahmte ihn nach und kicherte entzückt. Dann entdeckte sie etwas Neues, und so ging es bis runter nach Santa Marina Salina und weiter nach Lingua, wo wir wieder aus dem Bus kletterten. Wir schlenderten an den alten Salzbecken
vorbei bis zu Alfredos Bar. Dort entschieden wir uns für drei granita, ein mit Puderzucker bestäubtes süßes
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