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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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ihre Schultern. Im Küchenschrank kramte ich nach dem Windlicht, das ich erst heute Morgen entdeckt hatte, zündete die Kerze darin an und brachte es hinaus zu Phil.
    »Hier!« Ich zog den Brief hervor. »Da drin hat er gesteckt, das ist eine Art Geheimfach.« Aufmerksam hielt Phil die Bibel näher an das Kerzenlicht und untersuchte den aufklappbaren Buchdeckel.
    »Er ist von einem gewissen Finú an meine Mutter. Ich wusste nicht, dass sie vor meinem Vater schon jemand anderen hatte.«
    »Wie heißt dein Vater?«
    »Salvatore.«
    »Vielleicht ist er doch von deinem Vater, und sie hat ihn nur so genannt?«
    Ich schüttelte den Kopf: »Niemals! Das hier ist einfach - anders. Solche Worte würde er nie benutzen... du kennst meinen Vater nicht!«
    Ich übersetzte ihm den Brief: »Siehst du, dieser Satz zum Beispiel, ›Grazie per avermi accolto nel tuo cuore‹, diese Wendung - ›Danke, dass du mich in deinem Herzen willkommen geheißen hast, oder empfangen hast‹, das kann man kaum übersetzen, so schön ist das. Unmöglich für meinen Vater.«
    »Das hört sich sehr verliebt an!«

    »Sehr.« Ich nickte, und wir sahen uns an. Die Flamme der Kerze spiegelte sich in seinen dunklen Pupillen.
    »Wie lange mag das her sein?«
    »Ich weiß nicht, meine Mutter hat mit siebzehn geheiratet. Das muss also davor gewesen sein, warte mal, sie ist am 2. Juli 1948 geboren. Also ist dieser Brief vielleicht aus dem Jahre ’64 oder ’63. Sie war noch nicht siebzehn, schreibt er ja.«
    »Dann hat sie euch aber spät bekommen.«
    Er war ein Detektiv. Er merkte sich alles, rechnete und zog seine Schlüsse, ein gut aussehender Detektiv mit einem ernsten Lächeln.
    »Erst fünfzehn Jahre nach der Heirat kamen Leonardo und ich zur Welt. Vielleicht haben diese fünfzehn Jahre, in denen alle sie für unfruchtbar hielten, sie so still werden lassen.«
    Ich wusste, er würde nicht darüber lachen, deswegen fuhr ich fort:
    »Manchmal hatte sie das ›traurige Tier‹ zu Besuch. Als Kind habe ich mir darunter einen ausgewachsenen schwarzen Panther vorgestellt, den sie auf dem Rücken mit sich herumschleppen musste, der seine Krallen in ihren Hals bohrte, sobald sie wieder ein wenig munterer werden wollte. So angesprungen, konnte sie nur im Bett bleiben und schweigend Löcher in die Luft starren, das erschien mir logisch. Papa stand unten in der Pizzeria, also brachten Leonardo und ich Brühe mit pastina, winzigen Stern- oder Buchstabennudeln zu ihr und kochten Kamillentee für sie. Irgendwann war das ›traurige Tier‹ dann verschwunden, und sie konnte wieder aufstehen und uns morgens die Schulbrote machen.« Ich strich über den Umschlag der Bibel, die Phil immer noch in der Hand hielt.

    »Es fühlt sich seltsam an, aber sie ist plötzlich eine ganz andere Frau für mich. Als ob sie, als ob da...«
    »Erzähl weiter!«
    »Ach, das ist nur so ein komisches Gefühl. Vielleicht auch nur Einbildung. Ich war nach Grazias Trauerfeier in dem Haus meiner Mutter, dem Limonenhaus. Es war leer, da stand nur noch dieser halbe Tisch.«
    »Halbe Tisch«, wiederholte er, seiner Stimme war keine Verwunderung anzumerken.
    »Ja. Es gab da diesen halben Tisch, ein sizilianischer Tisch, ein mezzo tondo, halbes Rund, heißt das genau übersetzt. Als ich bei Leonardo und Grazia wohnte, benutzten wir ihn als Esstisch. Eigentlich bestehen diese Tische aus zwei Hälften, aber weil die Häuser damals oft klein waren, war es praktisch, dass man die Hälften auch einzeln an die Wand schieben konnte. Wo die dazugehörige Hälfte für dieses Exemplar allerdings geblieben war, wusste niemand. Teresa und ihre Söhne haben das Limonenhaus leer geräumt und alles verbrannt. Nur der Tisch stand da, einsam und vergessen, immer noch auf seine Zwillingshälfte wartend.«
    Warum das jetzt, fragten seine Augen. Warum erzählt sie mir bloß diese Geschichte? Ich wusste es selbst nicht genau. »Und daran muss ich plötzlich immer denken. Warum hat Teresa ausgerechnet diese Tischhälfte verschont? Das macht doch keinen Sinn.«
    Ein zartes »Pling-dinge-ding« kam aus der Küche auf die Terrasse geschwebt, eine weitere Nachricht von Claudio. Es musste Claudio sein, denn Susas Nachrichten machten plopp, als ob ein Korken aus der Flasche gezogen wird, und sonst schrieb mir niemand.

    »Lella!«, sagte Phil, und in seiner Stimme klang diese sanfte Bestimmtheit mit, die ich an ihm so mochte.
    »Lella!«, er drückte meine Hand, »das mit dem Tisch macht wirklich keinen Sinn, und der Brief

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