Das Loch in der Schwarte
Videokassetten zerstört, die Abgesandten kehrten niemals in ihre Heimat zurück, und die Azepibewohner bekamen niemals zu sehen, wie Pau in der letzten Folge endlich Lou, die Schönheit des Rindengeschäfts, heiratete, wobei die Rindenarbeiter jubelnd im Kreis um sie herumstanden und die Gift und Galle spuckende Mutter zurückhielten.
Viele sagten voraus, dass das Gaganet den Tod der Literatur bedeuten würde. Bei so vielen Homepages, die man anklicken konnte, hätten die Leute gar keine Zeit mehr für Belletristik. Bald würde das Surfen alles andere schlucken, das Bücherlesen würde ebenso verschwinden wie einstmals Gladiatorenkämpfe oder Hexenverbrennungen.
Aber es kam genau umgekehrt. Die Homepage bibblan.com wurde eine der meistbesuchten, und das Lesen explodierte geradezu im Universum. Hier gab es plötzlich wirklich alles. Jeder Geschmack im ganzen Universum wurde zufrieden gestellt. Übersetzungsprogramme wurden pausenlos verfeinert, und man konnte selbst den Stil beeinflussen. Eine neutrale Unterhaltungsprosa konnte aufgemotzt oder naiv gestaltet werden, altertümlich verschnörkelt oder modern nüchtern. Die zahllosen Leser konnten einen Verkürzer benutzen, der monotone Naturbeschreibungen herausschnitt, zähe Monologe und anderes, was die Geschichte nicht voranbrachte. Andererseits gab es die Wiederkäuerfunktion, die dazu führte, dass der Lieblingsroman niemals ein Ende fand, sondern mit kleinen, netten Varianten bis in alle Ewigkeit weiterlief. Beliebt wurden auch Filter. Was auf einem Planeten geschätzt wurde, war auf einem anderen tabu, und wenn man Lästerungen oder Sodomie mit wirbellosen Tieren eklig fand, so konnte man einen Finden-und-Ändern-Filter vorschalten, der den Text reinigte. Statt »Gott, verdammt noch mal« konnte dann in der Übersetzung »Gott, so ein Mist« stehen, »Mein Gott, so was Blödes« oder bei maximalem Religionsfilter »Was für ein Pech!«.
Das Bücherlesen erreichte also dank des Gaganets sein höchstes Niveau in der Weltgeschichte.
Während hingegen die Schriftsteller verschwanden.
Was für ein Pech, so könnte man denken. Und merkwürdig außerdem, wie um alles in der Welt hing das nur zusammen?
Der Norweger Guttorm Loll wurde das Erdenwesen, das als Erstes die revolutionierende Entdeckung machte. Er war Norwegischlehrer an der Realschule in Tromso. In seiner Freizeit war er ein begeisterter Amateurdichter mit mehreren Schreibkursen auf dem Buckel, und einer seiner Träume war, eine eigene Gedichtsammlung herauszugeben. Gleich bei Schuljahresbeginn war sein Blick auf die neue, exotisch schöne Psychologiestudentin Andrea gefallen. Sie hatte hohe, indianische Wangenknochen, ihre Augen waren groß und schwarz, als spräche eine alte Angst aus ihnen. Sie war auf der Hut. Wie ein Tier, das nicht gefangen werden wollte. Plump ließ er sich ihr gegenüber im Personalraum nieder, mit der Absicht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Ihr Magen zog sich schon zusammen, als er nur seine Brotdose öffnete: Brotscheiben mit braunem, süßem Ziegenkäse und Makrele in Tomatensauce. Sie knabberte schweigend an ihrem Olivensalat und sah etwas gequält drein, ihre Lippen schlossen sich um die öligen Kalamataoliven und formten sich zu einem kleinen o, das die spulenförmigen Kerne herausdrückte. Er hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass sie in Chile geboren war, irgendwo im Andengebirge. Deshalb hatte sie sich auch für Norwegen entschieden. Die Bergspitzen, der freie, weite Himmel. Er wollte sie gern berühren, wurde aber von ihrer unnahbaren Art abgeschreckt. Sie hatte einen kranken Mann zurückgelassen, wie sie einmal erwähnte, als er Kaffee für sie holte. Einen sehr kranken Mann. Und dann eilte sie davon, gerade als er seinen kleinen Finger auf ihren hatte legen wollen.
Es gab nur einen Weg. Er musste ein Gedicht für sie schreiben und so den Weg in ihr Herz finden. Dein langes, dunkles Haar ist wie ein nächtlicher Regenschauer… nein, wie ein Wasserfall der Trauer … nein, vielleicht eher irgendwie wie ein Fell, ein Fell hat etwas Dunkles und Geschmeidiges an sich, der schwarze Samt eines Panters im Schatten des Dschungels … Ein empfindsames, seelenvolles Gedicht, das sie wecken sollte, damit sie dahinschmölze und feststellte, dass trotz geflochtener Slipper unter seinem Trachtenpullover und seiner allzu früh einsetzenden Glatze, hinter den schiefen Vorderzähnen und ein Vulkan brannte, ja kochte.
Der Anfang war immer das Schwerste. Die erste Zeile. Die
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