Das Locken der Sirene (German Edition)
dem Durcheinander der Decken und stand auf.
Gähnend tapste sie zum Kleiderschrank und schaute ihre Klamotten durch. Heute würde sie etwas tun, das sie nur einmal im Jahr tat: Sie würde sich konservativ kleiden. Nach kurzem Wühlen fand sie ihren einzigen Rock, der über die Knie reichte, die einzigen schwarzen Schuhe mit flachem Absatz und die einzige weiße Bluse, die nicht so geschnitten war, dass man jeden Zentimeter ihres Dekolletés sehen konnte. Sie fand sogar eine Perlenkette, die sie vor Jahren von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte, und legte sie an. Sorgfältig band sie ihre Haare zusammen, zähmte die lockige Mähne so gut wie möglich und legte nur halb so viel Make-up auf wie sonst.
Denn heute ging sie in die Kirche.
Auf dem Weg zum Gotteshaus spürte Nora, wie zwei Dämonen in ihr rangen: Angst und Eifer bekämpften sich wie jedes Jahr an diesem besonderen Tag. Kurz nach drei bog sie auf den Parkplatz der Sacred Heart Catholic Church. Hier war sie als Säugling getauft worden, hier war sie zur Erstkommunion gegangen. Und hier war sie Søren vor über achtzehn Jahren das erste Mal begegnet.
Sacred Heart war unter Sørens Leitung gewachsen. Von anfangs etwas mehr als hundert Mitgliedern hatte die Kirche ihre Größe während seiner Zeit verdreifacht. Ein gut aussehender, polyglotter Priester von erst neunundzwanzig Jahren war er gewesen, als er das erste Mal hierherkam. Søren entsprach so ziemlich allem, wofür Priester sonst nicht bekannt waren. Er war gebildet, geistreich und charmant. Zwei andere Priester in nahe gelegenen Diözesen waren in den vergangenen beiden Jahrzehnten von ihren Posten entfernt worden, weil gegen sie der Vorwurf sexuellen Missbrauchs laut geworden war. Katholische Eltern brachten ihre Kinder jetzt lieber in Scharen nach Sacred Heart. Sie wussten, dass man „Father S.“ vertrauen konnte. Und obwohl Nora wusste, zu wem er wurde, wenn er mit ihr hinter verschlossenen Schlafzimmertüren zusammen war, hatten die Eltern recht, wenn sie ihm vertrauten.
Irgendwie ist es lustig, wie wenig ich noch von meiner Kindheit in dieser Gemeinde weiß, dachte sie, als sie durch die hohe Eingangstür in die Kirche trat. Sogar von Father Greg, dem Vorgänger von Søren, war kaum mehr haften geblieben als die ferne Erinnerung an einen älteren, freundlichen Mann. An dem Sonntag, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war, war Søren wie eine Verkündigung über sie gekommen. Es war, als habe Gott selbst sie persönlich gegrüßt.
Sie blieb im Foyer stehen und schaute sich um. Foyer, dachte sie und musste lachen. Søren korrigierte sie immer, wenn sie so von dem Vorraum sprach. „Das hier ist die Vorhalle, Eleanor“, hatte er gesagt und sich ein Lächeln verkniffen. „Nicht das Foyer.“ Das nächste Mal, als sie sich im Gespräch auf den Raum bezog, hatte sie von der „Lobby“ gesprochen.
Nora blickte sich um und versuchte die tausend Erinnerungen zu erfassen, die sie in diesem Moment übermannten. Sie sah den kleinen Schrein in der Ecke des Eingangs, der der Jungfrau Maria gewidmet war. Davor brannten kleine Kerzen. Nora stand vor dem Schrein, sie schloss die Augen und erinnerte sich …
Sie war wieder sechzehn Jahre alt, und ihre beste und älteste Freundin war ein Mädchen namens Jordan. Sie war introvertiert und schüchtern, weshalb Jordan keine Ahnung hatte, dass sie auch wunderschön war. Sie waren auf derselben katholischen Highschool, besuchten die meisten Kurse gemeinsam. Bis auf Englisch während dieses Schuljahrs. Denn Nora war in dem Kurs mit den Besten, und Jordan, die nie so gut mit Worten umgehen konnte wie Nora, war in einem anderen Kurs. Nora würde niemals vergessen, wie Jordan eines Tages nach der Schule mit aschfahlem Gesicht aus dem Unterricht gekommen war. Es dauerte drei Tage, ehe Nora ihr entlocken konnte, was passiert war. Jordans Englischlehrer, ein verheirateter Mann in den Vierzigern, hatte sie nach dem Unterricht gebeten dazubleiben und hatte die Hand unter ihre Bluse geschoben. Er hatte ihr angeboten, ihr eine Eins zu geben, wenn sie ihm dafür das Offensichtliche gab. Nora war daraufhin stinkwütend geworden und hatte gedroht, den Lehrer mit bloßen Händen zu Tode zu prügeln. Jordan hatte haltlos geweint, denn sie fürchtete, niemand werde ihr glauben und ihr zu Hilfe kommen. Schließlich war der Englischlehrer auch der Trainer der Basketballmannschaft, und das Team spielte gerade die beste Saison seit Jahren. Jordan nahm Nora das Versprechen
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