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Das Locken der Sirene (German Edition)

Das Locken der Sirene (German Edition)

Titel: Das Locken der Sirene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiffany Reisz
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etwas erwidern konnte, erklang das eindeutige Quietschen von Turnschuhen auf dem Hartholzboden. Ein lauteres Quieken folgte dem ersten, und dann hörte sie das schrille Kichern von Kindern.
    „Die Pflicht ruft“, sagte Søren und erhob sich von der Bank.
    Nora ging an seiner Seite den Mittelgang hinunter und betrat die Halle vor dem Altarraum. Sie folgten dem Lärm der Kinder von der Kirche zu dem Anbau, in dem sich der Gemeindesaal und die Küche befanden. Søren führte sie in den Saal, der zum Teil Turnhalle, zum Teil Empfangsbereich war. Vor ihren Augen brach ein tierisches Durcheinander aus. Diese Bezeichnung erwies sich als doppelt passend, als ein Junge, der sich als Schaf verkleidet hatte, an ihnen vorbeisauste.
    „Was, zum Himmel, ist das?“, fragte Nora, als sie endlich einen ruhigen Platz nahe der Küche fanden.
    „Die Kinder üben für das Passionsspiel am Sonntag“, erklärte Søren.
    Überall waren Kinder. Sie rannten zu ihren Eltern, von den Eltern weg, manchmal sogar in ihre Eltern rein. Als sie Søren bemerkten, ließ der Lärm allerdings nach, und wie von selbst kehrte eine gewisse Ordnung ein. Das hatte sie an Søren schon immer bewundert. Er ließ seine Gegenwart sprechen und weniger seine Worte.
    Noras Blick blieb an einer Frau hängen, die ihr vage vertraut vorkam. Als sie ihre Gesichtszüge studierte, konnte sie ihr einen Namen zuordnen – es war Nancy James, eine der Mütter hier, die sie sehr mochte. Manchmal war es für Nora schwer, sich vorzustellen, dass sie erst vor fünf Jahren noch regelmäßiger Gast in der Kirche gewesen war. Sie hatte damals einmal im Monat sonntags in der Sonntagsschule ausgeholfen. Sie kannte die Menschen und ihre Kinder immer noch. Endlich gelang es Nora, Nancys Aufmerksamkeit zu wecken, und sie lächelte. Es brauchte einen Moment, aber dann erwiderte Nancy das Lächeln. Fünf Jahre – für sie fühlte es sich an, als sei es gestern gewesen. Als sei es vor einer Million Jahre gewesen.
    „Haben sie über uns Bescheid gewusst?“ Nora nickte zu einer Gruppe Eltern. Sie sprach leise, obwohl das mit so viel lärmenden Kindern im Saal unnötig war. Sie hätte Søren die Frage problemlos zurufen können.
    „Ich bin noch immer Priester. Ich glaube, wir können daher mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sie es entweder nie auch nur ansatzweise vermutet haben oder dass es sie nie interessiert hat.“
    Nora lachte kalt. „Die Exverurteilte Elle Schreiber und der heilige Father Stearns? Natürlich haben sie das nie vermutet.“
    „Eleanor, sie haben nie so schlecht von dir gedacht, wie du gerne glaubst. Wenn du zurückkommst, werden sie dich mit offenen Armen willkommen heißen.“
    „Ich komm nicht zurück.“
    Ein leises Lächeln umspielte Sørens wunderschöne Mundwinkel. „Und trotzdem bist du hier.“
    Nora wollte widersprechen. Doch dann bemerkte sie am anderen Ende des Raums ein Paar spiegelhelle Augen.
    „Michael …“, hauchte sie.
    „Ja. Er hilft uns dieses Jahr beim Passionsspiel. Er kann wirklich gut mit Kindern umgehen. Wenn er sich mit ihnen beschäftigt, entspannt er sich. Das fällt ihm in anderen Situationen eher schwer.“
    In dem Augenblick wirkte Michael alles andere als entspannt. Sein langes schwarzes Haar trug er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, aber sie konnte sehen, dass einzelne Strähnen sein Gesicht umspielten. Kinder jagten in wilder Hatz um ihn herum. Er richtete Heiligenscheine, band Flügel wieder an und ließ zu, dass die kleinen Engel sich kreischend an ihn hängten. Ein Schäfer rannte fast in ihn hinein, und er lachte und wich ihm geschickt aus.
    „Geht es ihm gut?“, wollte Nora wissen. Die Schuld schnitt sich wie ein Messer tief in sie ein.
    „Er und seine Mutter kommen seit zwei Jahren regelmäßig her. So zufrieden habe ich ihn noch nie gesehen. Er hat seinen Frieden gefunden, ist beinahe glücklich. Da ist ein neuer Ausdruck in seinen Augen: Erleichterung.“
    „Erleichterung … weil er nicht allein ist?“
    „Ja. Ich habe ihm von uns erzählt. Wer wir sind. Über diese andere Welt, in der wir leben. Ich weiß, damit habe ich ein großes Risiko auf mich genommen. Aber er hatte den Worten seines Vaters allzu leicht Glauben geschenkt und war überzeugt, krank zu sein und ein abartiges Verlangen zu haben. Aber es ihm zu erzählen reichte nicht …“
    „Ja, du musstest es ihm zeigen“, sagte Nora und dachte grimmig an das Prinzip „Show, don’t tell“, das Zach ihr immer wieder predigte … Aber

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