Das Locken der Sirene (German Edition)
ab, niemandem an der Schule davon zu erzählen. Im Gegenzug überzeugte Nora ihre Freundin davon, Father S. über die Geschichte zu unterrichten. Bis heute wusste Nora nicht, was Søren getan oder gesagt hatte. Sie wusste nur, dass er an einem Freitag in ihre Schule gefahren und dass der Lehrer am folgenden Montag nicht mehr aufgetaucht war.
Nora war an dem Tag nach der Schule zur Kirche gesaust. Sie fand Søren betend vor dem Schrein der Jungfrau Maria und erzählte ihm, wie dankbar Jordan sei, wie entsetzt alle an der Schule wären und dass niemand wisse, warum der Coach so plötzlich die Schule verlassen habe.
Søren hatte nicht gelächelt. Er hatte nur eine Kerze entzündet.
„War das schwierig?“ Sie erinnerte sich: Sie hatte an genau dieser Stelle gestanden und die Frage gestellt. „Diesem Typen aufs Dach zu steigen?“
„Es war beängstigend leicht, die Angst vor Gott in ihn zu pflanzen“, hatte Søren geantwortet. „Und es hat fast Spaß gemacht. Warum fragst du, Eleanor?“
Sie hatte daraufhin ihre Kapuzenjacke geschlossen und nervös an den ausgefransten Bündchen ihrer Ärmel herumgezupft. „Ich dachte, es könnte vielleicht schwierig sein für dich. Du weißt schon. Immerhin liebst du mich.“
Søren hatte ihren Blick erwidert, und sie hatte in diesem Moment erkannt, dass sie ihn tatsächlich überrumpelt hatte. Eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen ihr das in den letzten achtzehn Jahren gelungen war.
Seufzend hatte er den Kopf geschüttelt. „Weißt du, Eleanor – es gibt im Gazastreifen Selbstmordattentäter, die nicht so gefährlich sind wie du.“ Er war zu seinem Büro gegangen, und sie hatte fast rennen müssen, um mit seinen weit ausgreifenden Schritten mitzuhalten.
„Das verstehe ich mal als ein Ja“, hatte sie gesagt, als sie seine Bürotür erreichten.
„Ich war schon immer ein Bewunderer der Zisterziensermönche.“ Søren betrat sein Büro. „Vor allem von ihrem Schweigegelübde.“ Mit diesen Worten schlug er ihr die Tür vor der Nase zu.
Die nächsten zwei Wochen hatte sie das Grinsen nicht aus dem Gesicht bekommen.
Nora öffnete die Augen und trat von dem Schrein zurück und verließ damit auch die Erinnerung. Ihre Absätze klackerten auf dem Holzfußboden, der im Laufe der Jahre glatt und glänzend geworden war. Sie vermutete, dass Søren in seinem Büro war und arbeitete. Vor dem Altarraum blieb sie stehen, als sie hörte, dass jemand Klavier spielte. Die Melodie drang durch die dicken Holztüren. Sie nahm die leisen Töne tief in sich auf, dann schlüpfte sie ins Kirchenschiff und ging auf Zehenspitzen zur Chorschranke. Dahinter saß Søren an einem Flügel.
Er blickte nicht zu ihr auf, als sie an den Flügel trat. Sie legte die Hände flach auf den schwarzen Deckel, schloss erneut die Augen und ließ die leichten Wellen in ihrem Körper vibrieren. Der letzte Ton lief zitternd an ihren Armen hinauf und durch ihren Körper bis hinab zu den Füßen. Als er durch das Kirchenschiff hallte und zu ihnen zurückkam, öffnete Nora die Augen.
„Die Mondscheinsonate“, sagte sie. „Mein Lieblingsstück.“
Søren lächelte und spielte ein paar Töne. „Das weiß ich.“
Nora erwiderte das Lächeln. Sie beugte sich vor und ließ ihre Hand über die schwarze Lackoberfläche des Flügels gleiten. „Alles Gute zum Jahrestag, Søren.“
Er lächelte wieder. Es war ein seltenes, aufrichtiges Lächeln, das seine Augen erreichte. Irgendetwas daran versetzte ihr einen Stich. Ihr Lächeln schwand.
„Alles Gute zum Jahrestag, Kleines“, sagte er. Seine Stimme war so sanft wie der letzte Ton der Sonate.
Mit diesen fünf Worten stürmten tausend neue Erinnerungen auf sie ein. Sie und Søren hatten nie geheiratet und würden es nie tun. Sie hatten sich nie so getroffen, wie andere Paare es taten, es hatte nie ein erstes Date gegeben. Trotzdem hatte es für sie nie eine Frage gegeben, welcher Tag derjenige sein würde, den sie begingen, um den Beginn ihres gemeinsamen Lebens zu feiern. Das erste Mal hatte Søren sie vor dreizehn Jahren an Gründonnerstag geschlagen und ihr anschließend die Jungfräulichkeit genommen. Am Tag vor Karfreitag, an dem Christen in aller Welt Jesu letztes Abendmahl feierten. Jesus, der fleischgewordene Gott, hatte an diesem Abend vor seinen Jüngern gekniet und ihre Füße gewaschen. Vor dreizehn Jahren hatte Søren dasselbe mit ihr gemacht. Selbst im Laufe der Jahre, wenn sich aufgrund der Mondphasen Ostern verschob, hatten sie nicht ein
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