Das Locken der Sirene (German Edition)
einziges Mal darüber nachgedacht, ihren Jahrestag an einem anderen Datum zu feiern als an diesem wenig beachteten Feiertag. Der letzten Nacht, die Christus in Freiheit verbrachte, ehe man ihn festnahm. Der letzten Nacht, in der er einen stillen Moment mit denen teilte, die er liebte.
Søren begann wieder die eindringliche Melodie zu spielen, und sie ließ sich ohne Gegenwehr in diesen Rhythmus hineinziehen. Sie beobachtete seine Hände. Perfekte Pianistenhände. Jetzt erinnerte sie sich wieder allzu gut, wie vertraut sie mit diesen Händen war. Wie vertraut diese Hände mit ihr waren. Sørens Gesicht war eine Maske der Gelassenheit; nur eine vorwitzige Strähne seines perfekten blonden Haars drohte ihm in die Stirn zu fallen. Sie sehnte sich so sehr danach, ihm die Strähne aus dem Gesicht zu streichen.
„Du hast dieses Stück für mich in jener Nacht gespielt“, sagte sie, als die Musik verstummte. Nora schloss die Augen und ließ zu, dass die Vergangenheit sich ihr näherte. „Du hast es gespielt, als ich zu dir ins Pfarrhaus kam.“ Sie erinnerte sich an jene Nacht noch, als sei es gestern gewesen. Sie war durch die Hintertür geschlüpft, die durch hohe Bäume vor neugierigen Blicken geschützt war. Neugierig war sie der Musik bis in Sørens elegantes, vertrautes Wohnzimmer gefolgt und hatte schweigend dagestanden und den Priester beobachtet, der in dieser Nacht ihr Liebhaber werden sollte. Im Licht einer einzelnen Kerze hatte er das schönste Musikstück der Welt gespielt, als sei es nur für sie und ihn komponiert worden. „Am nächsten Morgen bin ich das erste Mal in deinem Bett aufgewacht.“
„Das war der schönste Morgen meines Lebens“, sagte Søren.
„Meines auch.“ Nora spürte das vertraute Ziehen und Zerren ihrer Liebe. Sie richtete sich auf und versuchte dieses Gefühl abzustreifen. „Wann hat die Kirche so einen schönen Flügel bekommen?“
Søren lachte leise. „Ein geheimnisvoller Fremder ließ mir an meinem letzten Geburtstag einen Imperial Bösendorfer liefern. Ich habe daraufhin meinen Steinway der Kirche gespendet.“
„Das war sehr großzügig von diesem geheimnisvollen Fremden“, sagte Nora und lächelte verlegen.
„Wirklich sehr großzügig. Obwohl der Steinway sich immer noch wunderbar spielen lässt.“
„Eins der Pedale ist seit Jahren schon etwas schwerfällig zu bedienen.“
„Ja. Und wessen Schuld ist das?“
„Jedenfalls nicht meine!“, protestierte Nora. „Erinnerst du dich noch, was du mit mir damals gemacht hast? Ich musste mich doch irgendwo festhalten, oder nicht?“
Søren schaute auf seine Hände. Seine Finger schwebten über den Tasten und spielten lautlose Phantomnoten.
„Du hättest dich an mir festhalten können.“
Nora schluckte nur. Es war selten, dass sie sprachlos war.
Vielleicht spürte Søren ihr Unbehagen, denn er legte die Hände auf die Tasten und begann wieder zu spielen. „Die Mondscheinsonate ist ein merkwürdiges Musikstück“, sagte er versonnen. „Es wurde oft als Wehklage bezeichnet. Du kannst es spüren, wenn du sie spielst. Du spürst den Kummer und das Verlangen, die sich in den endlosen Wiederholungen widerspiegeln. Es ist leicht zu spielen. Aber dieses Stück richtig gut zu spielen ist wahnsinnig schwierig. Die Arpeggios erlauben es dem Pianisten, sich eine große Freiheit herauszunehmen. In ungeübten, ungelernten Händen ist zu viel Freiheit falsch aufgehoben. Man sagt, Beethoven habe die Sonate für die siebzehnjährige Countess Giulietta Guicciardi geschrieben. Vielleicht hat er sie geliebt. Wahrscheinlicher ist aber, dass er bloß versucht hat, sie zu verführen.“
„Bei mir hätte das funktioniert.“
„Bei dir hat es funktioniert.“
Dieses Mal lächelte Nora bei der Erinnerung, die Sørens Worte in ihr weckten. Erneut ließ sie die Hände über die Oberfläche des Flügels gleiten. „Mein Gott, die Verbrechen wider die Natur, die auf diesem Flügel begangen wurden …“
„Ich hoffe, du beziehst dich auf mein Spiel.“
„Niemals. Ich weiß nur zu gut, wie begnadet deine Hände sind.“
„Bitte etwas mehr Anstand. Wir befinden uns in einer Kirche, Eleanor“, erinnerte Søren sie. Um seinen Mund lag ein verspielter, dennoch ernster Ausdruck.
„Vergib mir, Father S.“ Sie schaffte es, ihre Gesichtszüge in eine stumme Pantomimenmaske aus Reue zu verwandeln.
„Natürlich, Kleines. Ich kann dir alles vergeben. Aber glaube ja nicht, dass du nicht eines Tages Buße tun musst.“
Ehe sie darauf
Weitere Kostenlose Bücher