Das Locken der Sirene (German Edition)
sagen.
„Ja.“
„Weißt du, warum ich das nicht zugelassen habe? Warum ich dich aufgehalten habe, ehe du mich an jenem Abend im Taxi fragen konntest, ob ich noch mit nach oben komme?“
Zach spürte, wie ihn ein leichter Schwindel erfasste. Nora bewegte sich, während sie sprach, und die Worte schienen von überall gleichzeitig zu kommen.
„Warum?“ Sie hatte aus der Anziehung nie ein Geheimnis gemacht. Warum sie ihn das eine Mal, als er ihr Avancen hatte machen wollen, abgewiesen hatte, war ihm seit jenem Abend ein Rätsel geblieben.
„Weil in deinen Augen so viel Schmerz stand, als du Graces Namen aussprachst. Ich wusste, du wolltest eigentlich nicht mich. Du wolltest nur für ein paar Stunden nichts mehr fühlen und nichts mehr denken müssen. Stimmt’s?“
„Ja“, gab Zach zu.
„Ich will dich, Zach. Aber ich will dich auch kennenlernen.“
„Du kennst mich doch.“
„Du hast dein halbes Leben geschickt vor mir verborgen“, erwiderte sie. „Ich will nicht den halben Zach. Ich will alles. Meine Geheimnisse kennst du inzwischen. Jetzt ist es an der Zeit, mir deine zu verraten. Heute Nacht geht es um alles oder nichts. Sag ‚Alles‘, und wir machen weiter. Sagst du ‚Nichts‘, geht es hier für immer zu Ende. Es ist deine Entscheidung.“
Er spürte, wie der Boden sich unter ihm bewegte. Mit nackten Füßen auf dem Holzfußboden konnte er sich einen Moment lang wirklich vorstellen, auf einem Schiff zu sein, das im Sturm hin und her geworfen wurde.
„Alles.“
„Gut“, erwiderte Nora. Sie klang erleichtert und zugleich entschlossen. „Dann erzähl mir jetzt von Grace …“
„Darüber will ich aber nicht reden.“
„Dann sag dein Safewort, und es ist vorbei. Aber das wird es ein für alle Mal beenden. Diese Sache und uns. Wenn du nicht willst, dass es zu Ende geht, beantworte meine Frage.“
Einen schrecklichen Moment lang erwog Zach seine Optionen. Es gab einige Dinge, über die er einfach nicht sprach. Aber sie waren jetzt schon so weit gekommen – es wäre schwieriger, jetzt den Rückzug anzutreten, als voranzuschreiten. Zach nahm ein paar flache Atemzüge und versuchte sich mithilfe der Geräusche zu orientieren, die von der Straße heraufklangen.
„Grace war achtzehn, als wir uns kennenlernten.“ Er gab die Worte nur langsam her, so wie er seine kostbarsten Besitztümer nur zögernd einem Dieb übergeben würde. „Ich war … älter.“
„Damals hast du schon in Cambridge gelehrt?“
„Ja.“
„Grace war deine Studentin?“
Zach schluckte hart. „Ja.“
„Das erklärt, warum meine Beziehung zu Wes dir anfangs so unangenehm war. Das war für dich ein Déjà-vu, nicht wahr? Es scheint eher untypisch für dich, dass du dich auf eine Studentin einlässt.“
„Alle Lehrer entwickeln gelegentlich eine Anziehung zu einem Studenten. Ich hatte bloß nie vor, dieser Neigung nachzugeben. Grace war unbeschreiblich hübsch, doppelt so klug und talentiert wie all die anderen Studenten, die ich bis dahin gehabt hatte. Sie schrieb Gedichte. Richtig gute Gedichte. Keine Achtzehnjährige hat in der Geschichte der Literatur je gute Gedichte geschrieben. Sie schon.“
„Was hat sie noch gemacht?“
„Sie brachte mir manchmal ihre Gedichte und fragte mich nach meiner Meinung. Sie wollte meine Hilfe.“
„Du warst ihr Lektor.“
Zach lachte verbittert. „Ich vermute, das war ich.“
„Sie hat dich geliebt.“
„Wie ein Mädchen von achtzehn Jahren ihren einunddreißigjährigen Lehrer nun mal lieben kann. Zu der Zeit habe ich einfach gedacht, sie interessiere sich nur für ihr Schreiben.“
„Achtzehn bedeutet, dass sie hier in den Staaten keinen Alkohol kaufen kann. Aber das bedeutet nicht, dass sie dich nicht lieben konnte.“
„Es bedeutet auch eher, dass ich diese Liebe nicht hätte erwidern dürfen.“
„Aber genau das hast du getan.“
„Ja, leider.“ Sein Magen krampfte sich zusammen, als er dieses Jahr ein zweites Mal durchlebte. Dieses albtraumhafte Jahr. „Oder das, was ich damals für Liebe hielt. Aber ich habe nie einen Vorstoß in diese Richtung unternommen. Ich liebte meine Arbeit. Ich war gerne Dozent und genoss mein Leben.“
„Was ist passiert?“ Noras Fragen waren unnachgiebig.
Zach atmete tief ein. Er hatte sich nie zuvor erlaubt, an die Zeit zurückzudenken, geschweige denn jemandem davon zu erzählen. Diese Bürde hatte er bisher ganz allein tragen müssen.
„An einem Freitagabend war ich noch spät in meinem Büro. An dem
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