Das Locken der Sirene (German Edition)
Wochenende musste ich hundert Examensarbeiten korrigieren. Ich vermute, ich habe im Unterricht etwas in der Richtung erwähnt. Irgendwie wusste sie, dass ich da sein würde.“
„Sie kam in dein Büro?“
„Ja. Ich war erschöpft.“ Plötzlich war Zach wieder in diesem engen Büro im zweiten Stock. Seine Ärmel hatte er hochgerollt, die Finger waren mit roter Tinte beschmiert. Nach stundenlanger Lektüre und der ständigen Konzentration schmerzte sein Kopf. Er gähnte, streckte sich und hörte im Flur ein Geräusch. „Ich hörte Schritte und schaute auf. Sie stand in der offenen Tür.“
„Sie kam spätabends in dein Büro. Soll ich daraus schließen, dass das Unvermeidbare passiert ist?“
„Es fühlte sich zumindest unvermeidbar an. Sie kam rein, ohne dass ich sie darum gebeten habe. Und dann zog sie die Tür hinter sich zu.“
„Was hat sie gesagt?“
„Sie sagte: ‚Heute hab ich keine Gedichte dabei.‘“
„Und was hast du gesagt?“
Zach atmete aus. „Ich habe eigentlich gar nichts gesagt.“
„Das sollte für dich eigentlich keine schlimme Erinnerung sein. Sag mir, warum du es trotzdem so empfindest.“
„Sie war …“ Zach verstummte. Er ließ die Stille für sich sprechen. Hinter der Augenbinde schloss er die Augen. Er erinnerte sich, wie lässig Grace auf ihn zugekommen war. Wie sich ihr Körper unter seinem entspannte, wie seine Hände sich in ihre Schenkel drückten, als seien sie dafür geschaffen, sie immer wieder zu öffnen. Und dann erinnerte er sich an ihr schmerzhaftes Keuchen. Dieses kurze scharfe Einatmen, das ihm alles sagte.
„Sie war noch Jungfrau“, sagte Nora leise und füllte sein Schweigen.
„Ja.“
„Es ist nicht deine Schuld, dass du es nicht gewusst hast.“
„Es war meine Schuld …“, fing Zach an, doch die Schuldgefühle raubten ihm den Atem, als drücke ihm jemand ein Messer an die Kehle. „Mein Fehler war, dass ich nicht aufhörte. Ich konnte nicht.“
„Hat sie dir gesagt, du sollst aufhören?“
„Nein. Aber ich hätte es trotzdem tun sollen. Ich hatte vor ihr schon Dutzende Frauen gehabt. Aber noch nie …“ Obwohl die Erinnerung für ihn eine Qual war, erinnerte sich sein Körper noch sehr gut. Er konnte immer noch spüren, wie er sich in ihrer Enge gefühlt hatte. „Ich habe niemals zuvor so viel Vergnügen dabei empfunden, eine Frau zu lieben.“
„Erzähl mir, was dann passiert ist, Zach“, verlangte Nora. Sie würde erst aufgeben, wenn er ihr alles erzählt hatte.
„Du hast recht, es war nicht meine Schuld, dass ich nichts von ihrer Jungfräulichkeit wusste. Aber es war meine Schuld, dass sie schwanger wurde.“
„Du lieber Himmel!“, sagte Nora. Sie klang das erste Mal entsetzt und mitfühlend zugleich. Zach hatte fast Angst vor der nächsten Frage.
„Du hast keine Kinder, daher vermute ich, dass es nur drei Antworten auf meine Frage gibt, was danach geschah: Adoption, Abtreibung oder Fehlgeburt.“
„Es war eine Eileiterschwangerschaft. Schlimmer als eine Fehlgeburt.“
Er hörte, wie Nora leise die Luft einsog, spürte das schmerzliche Zusammenzucken. „Wie schlimm war es?“
„Es hat sie fast umgebracht. Sie war so jung, und sie hatte keine Ahnung, was normal ist und was nicht. Einen Monat lang hat sie den Schmerz ignoriert. Wir waren erst zwei Wochen verheiratet, als sie morgens in einem See aus Blut aufwachte. Der Arzt hat mir später gesagt, die Chancen stünden eins zu eine Million, dass ein Mädchen in ihrem Alter und mit ihrem Gesundheitszustand so etwas erlitt. In ihrem Alter, sagte er und hat mich dabei angesehen, als sei ich ein Krimineller. Ich fühlte mich auch so. Achtzehn Jahre alt, und sie lag blutend in der Notaufnahme. Achtzehn Jahre alt, und sie hatte einen Mann heiraten müssen, der über zehn Jahre älter war als sie. Einen Mann, der für sie kaum mehr als ein Fremder war.“
„Was geschah danach?“
Zach schüttelte den Kopf. „Sie hat überlebt. Aber ich war nicht sicher, ob
wir
das überleben würden. Oder ob wir das überhaupt sollten. Ich habe jeden Tag erwartet, dass sie mir sagt, sie würde mich verlassen. Wir hatten geheiratet, weil sie schwanger war. Dann war sie nicht mehr schwanger. Aber sie hat mich nie verlassen. Trotzdem war dieses erste Jahr für uns die Hölle. Ich hatte eine neunzehnjährige Ehefrau, die ich kaum kannte und die ans King’s College in London wechseln musste, nachdem ich in Cambridge gekündigt hatte. Ich habe denen nicht genug Zeit gegeben, mich
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