Das Locken der Sirene (German Edition)
Wochenenden.“
„Das haben wir. Aber das Buch ist jetzt Gott sei Dank fertig.“
Grace nickte und nahm noch einen vorsichtigen Schluck Tee. Nora trank auch und bemerkte dabei einen Bluterguss an ihrem Handgelenk, der sich violett verfärbte.
„Es war also die Arbeit, die ihn so oft hergeführt hat?“, fragte Grace und fixierte Nora mit einem erstaunlich festen Blick.
„Wir sind Freunde. Gute Freunde.“
Grace schaute nach unten. Sie schien angestrengt die winzigen Wellen in ihrer Teetasse zu studieren. Auf Nora wirkte sie wie ein nervöses Vögelchen. Ihre zarten Finger flatterten über dem Rand ihrer Teetasse. „Ich wollte eigentlich früher kommen. Ich habe versucht, schon gestern Vormittag zu kommen, aber mein Flug hatte Verspätung.“
„Warum sind Sie hier?“, fragte Nora.
Grace blickte hoch. „Zachary fliegt morgen nach Kalifornien. Ich konnte es schon kaum ertragen, als er hier in New York war. Kalifornien scheint am anderen Ende der Welt zu liegen. Seine Morgen wären dann meine Nächte.“ Grace atmete ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen. Nora schwieg und ließ sie einfach reden. „Ich hätte schon vor Wochen kommen sollen. Ich habe ihn angerufen … Ich hab behauptet, es gäbe einen Stromausfall und ich könnte die Taschenlampe nicht finden. Da stand ich nun, im Haus brannten alle Lichter, und ich belog ihn, weil ich seine Stimme hören wollte.“
„Klingt nach etwas, das ich tun würde.“ Es war leicht zu verstehen, warum Zach diese Frau so leidenschaftlich liebte. Sie besaß eine dichterische Schönheit. Eine Sanftheit, die über ihre unleugbare Tapferkeit hinwegtäuschte.
„Da war etwas in seiner Stimme … als wir telefonierten. Etwas, das mir Angst machte. Er klang so viel weiter entfernt, als trennte uns mehr als ein Ozean. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich herkommen soll. Jetzt allerdings muss ich mich fragen, ob ich zu spät bin. Nein, antworten Sie darauf nicht. Es tut mir leid.“
„Ich beantworte Ihnen jede Frage, die Sie haben, Grace.“
„Ich dürfte das eigentlich nicht fragen. Ich habe das Recht auf Fragen in der ersten Nacht verwirkt, die ich mit Ian verbracht habe. Ich spreche von dieser ersten Nacht, als habe es Dutzende gegeben und nicht nur drei ziemlich peinliche und demütigende Abende. Es hat nur eine Woche gedauert, ehe ich erkannte, was für einen dummen Fehler ich begangen habe. Aber ich war noch so jung, als Zachary und ich geheiratet haben, und die Umstände waren damals so schrecklich.“
„Ich weiß. Zach hat mir davon erzählt. Es tut mir schrecklich leid.“
Grace bedachte Nora mit einem entschlossenen, wenngleich etwas zittrigen Lächeln. „Er macht sich wohl ziemlich viel aus Ihnen, wenn er davon erzählt hat. Nicht einmal seine besten Freunden kennen die Geschichte.“
Nora zuckte mit den Schultern. „Ich hab’s aus ihm rausgeprügelt.“
„Ich glaube, ihm war die ganze Sache – ihm war ich – immer irgendwie peinlich.“
„Nein. Ich schwöre Ihnen, so war es nicht. Ich denke vielmehr, er hat sich seinetwegen geschämt. Sie waren sehr jung, und er war Ihr Lehrer …“
„Mein Lehrer, ja.“ Grace lachte. „Jedes Mädchen, das ich kannte, war damals mehr oder weniger in Zachary verknallt. Er sprach mit uns, als wären wir Gleichgestellte.“ Sie lächelte bei der Erinnerung daran. „Er trug jeden Tag diese ordentlichen, würdevollen Krawatten.“
Nora stellte sich unwillkürlich vor, wie sie Zach letzte Nacht mit ihrer eigenen schwarzen Krawatte die Augen verbunden hatte. „Zach mit Krawatte ist tatsächlich ein schöner Anblick“, stimmte Nora ihr zu.
„Jeden Tag mit Anzug und Krawatte.“ Grace schmunzelte. „Er war so verflucht ordentlich und so attraktiv, wenn er an der Seite der uralten Profs über den Campus schlenderte, die ihre Vollbärte kraulten und Shakespeare und Marlowe aus dem Gedächtnis rezitierten … Wir sind immer fast in Ohnmacht gefallen, wenn er vorbeikam. Das Sakko lässig über die Schulter geworfen und in der Hand die abgenutzte Lederaktentasche. Wir Mädchen hatten da unsere ganz eigene Vorstellung, was wir mit seinen Krawatten tun würden.“
„Sie sind eine Frau ganz nach meinem Geschmack.“
„Die erste Nacht mit ihm …“ Grace zögerte. Ihre Stimme klang verloren, wie aus weiter Ferne. „Ich dachte damals, ich sei ein Selbstmordkommando. Ich ging zu ihm, weil ich ihm sagen wollte, dass ich ihn liebe. Ich war absolut sicher, dass er mich vor die Tür setzen würde.
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