Das Locken der Sirene (German Edition)
Stattdessen hat er mit mir geschlafen. Ich weiß, ich hätte ihn daran hindern sollen, hätte ihn warnen müssen, dass ich nicht verhüte. Aber ich wollte nicht, dass er aufhörte. In dem Moment, als er mich küsste, hatte ich das Gefühl, die ganze Welt gehöre mir. Und selbst nachdem das alles passiert war, empfand ich noch genauso. Aber es ist nicht einfach, mit jemandem verheiratet zu sein, wenn du ständig diese schrille Stimme im Kopf hast, die dir vorwirft, dass er dich nur aufgrund seiner Schuldgefühle geheiratet hat.“
„Schuldgefühle hat er gehabt, davon bin ich überzeugt. Aber er hat Sie auch geliebt, und zwar mehr als alles andere.“
Grace saß einen Moment lang schweigend da und schien ihre Gedanken zu sammeln. „Ich weiß, das werden Sie jetzt vielleicht nicht glauben, aber ich habe Zachary die ganze Zeit geliebt. Auch in den schlimmsten Zeiten. Selbst in diesen schrecklichen Nächten mit Ian – da habe ich ihn sogar am meisten vermisst.“
„Ich glaube Ihnen.“ Nora versuchte sie aufmunternd anzulächeln. „Vor fünf Jahren habe ich den Mann verlassen, der davor dreizehn Jahre lang der Mittelpunkt meines Universums war. Glauben Sie mir, ich weiß, was Sie meinen.“
„Dreizehn Jahre …“ Grace klang ehrfürchtig. „Wie haben Sie das überlebt?“
„Ich wusste nicht, ob ich es überlebe. Manchmal weiß ich bis heute nicht, wie ich es geschafft habe.“
Grace nickte verständnisvoll. „Seit Zachary mich verlassen hat, fühlte ich mich wie ein Schatten. Ich ging durch das leere Haus, habe mich im Spiegel gesehen oder in den Fenstern gespiegelt und war überrascht, immer noch dort zu sein.“ Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern, und in ihren Augen schimmerten all die ungeweinten Tränen. „Manchmal hatte ich sogar Angst vor mir.“
Nora trank einen Schluck Tee und konnte ihn nur mit Gewalt runterschlucken. „Ich ängstige mich auch.“
„Ich glaube, ich sollte vermutlich froh sein, weil Zachary und ich so lange verheiratet waren. Ich habe nie geglaubt, dass er mich liebt. Ich wollte es ja glauben. Und er hat bestimmt alles in seiner Macht Stehende getan, um mir seine Liebe zu zeigen. Aber selbst nach sieben, acht Jahren blieben die Zweifel. Darum habe ich mich von ihm zurückgezogen. Ich habe einfach gehofft …“
„Sie hofften, er käme dann zu Ihnen.“
„Und ich ließ ihn gehen …“
„Weil Sie hofften, er würde zurückkommen.“
„Aber er kam nicht zurück“, vollendete Grace den Gedanken.
„Das tut mir leid“, sagte Nora, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen konnte.
„Ich glaube … Ich weiß nicht, was ich im Moment noch glauben kann. Ich vermute, damals hatte ich einfach die Vorstellung, es müsse erst zu Ende gehen, ehe wir von vorn anfangen können. Das war natürlich Unsinn. Eine Fantasie, die direkt einem Liebesroman entsprungen ist. Ist nicht bös gemeint.“
„Hab ich auch nicht so verstanden. Ich schreibe Erotik, keine Liebesromane.“ Nora grinste, doch das Lächeln schwand sogleich wieder. „Fragen Sie ruhig, Grace. Ich weiß, dass Sie das müssen.“
„Ich habe in seiner Wohnung angerufen. Keiner hat aufgemacht. Ich war heute früh bei ihm und habe geklopft. Keiner hat aufgemacht. War er mit Ihnen zusammen?“
Nora spürte, dass sie instinktiv die Krallen ausfahren wollte, um ihr Revier zu verteidigen. Aber irgendwie verspürte sie nicht die Feindseligkeit, die sie sonst bei einer Rivalin erfasste.
„Ich will Sie nicht anlügen, Grace. Er war mit mir zusammen.“ Sie beugte sich vor und schaute Grace ernst an. „Aber ich will auch mich nicht anlügen. Ich denke, er war die ganze Zeit bei Ihnen.“
Grace stand langsam auf. Sie trat ans Küchenfenster. „Als ich ihn anrief …“ Sie verstummte und atmete aus. Ihr warmer Atem ließ das kalte Fensterglas beschlagen. „Er hat mich nicht Gracie genannt, wie er’s früher immer getan hat.“
„Gracie“, wiederholte Nora. „Das ist süß. Sie sollten anfangen, ihn George zu nennen.“
„George?“
„George Burns und Gracie Allen. Sie haben eine wahrhaft legendäre Ehe geführt. Könnte funktionieren.“
„Ich habe mich jedes Mal ein bisschen mehr in ihn verliebt, wenn er mich so nannte. Wir waren seit etwa einem Jahr verheiratet, und eines Tages nannte er mich spontan so. Er sagte: ‚Gracie, komm her, das musst du lesen.‘ An dem Tag habe ich mich erstmals wirklich mit ihm verheiratet gefühlt. Es war so eine Erleichterung für mich, nachdem ich mein Leben lang
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