Das Locken der Sirene (German Edition)
zuerst gezögert, und dann habe ich es nicht über mich gebracht. Søren …“ Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. „Ich habe die Regel gebrochen. Ich fürchte, ich habe ihm geschadet.“
„Kleines.“ Søren legte eine Hand an ihre Wange. „Das tut mir so leid.“
„Ich muss ihn fortschicken, nicht wahr?“
„Zu seinem eigenen Wohl, ja. Das war ebenso unausweichlich, fürchte ich.“
Nora nickte. Sie verspürte diesmal nicht die Wut, mit der sie sonst jedes Mal konfrontiert wurde, wenn Søren wieder einmal recht behielt.
Er legte zwei Finger an ihre Schläfe und fuhr die Kontur ihres Gesichts von der Stirn bis zu den Lippen nach. „Du hast immer gewusst, dass Zach seine Frau liebt, nicht wahr?“
„Ja.“ Sie erinnerte sich nur zu gut an Graces Geist, der seinen Augen seit ihrer ersten Begegnung diesen gehetzten Ausdruck verliehen hatte. „Ich wusste es … tief in meinem Innern. Tief in meinem Herzen.“
„Und tief in deinem Herzen liebst du Wesley, nicht wahr?“
„Ja.“
„Und mich?“, fragte er. Seine Stimme klang so ernst und leise. Er hatte zuletzt viel zu selten so mit ihr gesprochen. „Wo liebst du mich?“
Nora zögerte nicht mit der Antwort. Sie schloss die Augen und wisperte: „Überall sonst.“
Søren schaute sie an, als hätte er die Antwort schon vorher gewusst. Als wäre das für alle Ewigkeiten ihre Antwort. Vielleicht ist es das auch, dachte sie.
„Komm mit in mein Büro“, sagte Søren. „Wir können dort darüber reden.“
Nora lächelte. „Dein Büro. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du mir Kakao gemacht und bei meinen Mathehausaufgaben geholfen hast. Wir haben immer auf der Bank vor deinem Büro gesessen.“
„Ich wusste immer, wann du an den Matheaufgaben gesessen hast. Die Litanei aus Schimpfworten, die durch die Flure hallte, war ein ausgezeichneter Hinweis. Wollen wir? Ich werde mal sehen, was ich noch so im Regal habe.“
Er bot ihr den Arm. Nora griff in ihre Manteltasche und legte ihm das Halsband auf seine ausgestreckte Hand.
„Ich bin nicht hergekommen, um Kakao zu trinken.“ Nora schaute ihm in die Augen. Vielleicht zum zweiten Mal in den letzten achtzehn Jahren war es ihr gelungen, ihn zu überraschen.
Søren sagte nichts. Er schloss nur die Finger um ihr Halsband. Sie hatte diese Finger schon tausendmal um seinen Rosenkranz geschlossen gesehen, und jetzt hielt er das Halsband mit derselben Liebe, derselben Hingabe und derselben grimmigen Entschlossenheit, auf dass der Himmel ihm sein Ohr lieh.
Ohne ein Wort drehte Søren sich auf dem Absatz um.
Nora folgte ihm durch den Altarraum und durch mehrere Türen. Die letzte führte sie zu dem Weg, der von Bäumen gesäumt im Schatten lag und von der Kirche zum Pfarrhaus führte. Wie oft hatte sie sich früher heimlich von der Kirche zu seinem Haus gestohlen? Eine Million Mal, dachte sie. Aber das war längst nicht genug.
Umstanden von einem Hain aus großen Ulmen und Eichen, stand Sørens Pfarrhaus still und elegant in diesem von der Natur erschaffenen Heiligtum. Ein kleines zweigeschossiges Cottage im gotischen Stil, das ihm sowohl Schönheit als auch Privatsphäre bot. Zwei sehr wichtige Dinge, auf die er viel Wert legte.
Nora wartete unterwürfig schweigend, während Søren im Kamin des Wohnzimmers ein Feuer entzündete. Sie schaute sich verstohlen um und sah die geheimen Zeichen ihrer langen Beziehung: den Bösendorfer Flügel, den sie ihm am 21. Dezember zum sechsundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Die Troddeln eines bestickten Lesezeichens, das sie während eines Kirchenlagers in dem Sommer gefertigt hatte, als sie sechzehn wurde, ragten aus einer Ausgabe der Gedichte von John Donne. Das Schloss an dem unteren Fach eines Schranks unter den Buchregalen – nur sie beide wussten, was er dahinter verschlossen hielt. Und an dem Kaminsims waren zehn kleine Kratzer im Holz, die ihre verzweifelten Fingernägel dort in einer Nacht hinterlassen hatten, als er keine Gnade mit ihr gehabt hatte. Sie wusste, sie würde heute Nacht vielleicht weitere zehn Kratzer in diesem Kaminsims hinterlassen.
Søren kam zu ihr herüber und schaute sie an. Sie hielt die Augen respektvoll niedergeschlagen. Das war die erste Lektion der Unterwerfung, die sie damals gelernt hatte.
„Warum bist du hier?“, fragte er.
„Um mich dir hinzugeben, Meister.“
„Du willst wieder mein sein?“
„Ja.“
„Komplett?“
„Ganz und gar, Meister“, bestätigte sie. „Ohne Bedingungen oder
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