Das Locken der Sirene (German Edition)
ein Brief, den der Erzähler William an Caroline schrieb, die Frau, die er geliebt und verloren hatte. Es funktionierte schon jetzt wunderbar – sowohl das Buch als auch die Zusammenarbeit mit Nora. Er hatte bisher nur selten seine Autoren in ihren Häusern besucht, und bestimmt hatte er noch nie mit einem am Küchentisch gesessen und Kakao getrunken. Nora erwies sich als eine ganz andere Sorte Schriftstellerin als alle, mit denen er bisher gearbeitet hatte. „
Ist das hier doch kein Liebesroman …“
, zitierte Zach aus dem ersten Kapitel. „Ein wunderschöner Satz. Atmosphärisch dicht und provokant. Sogar ein wenig ironisch.“
„Ironisch?“ Nora nippte an ihrem Kakao. Sie saß Zach gegenüber am Tisch und hatte die Knie an die Brust gezogen. „Es stimmt aber. Es wird kein Liebesroman.“
„Keiner im traditionellen Sinne, da gebe ich Ihnen recht. Ihre Protagonisten bekommen kein Happy End, aber es ist trotzdem eine Liebesgeschichte.“
„Eine Liebesgeschichte ist aber nicht mit einem Liebesroman gleichzusetzen. Ein Liebesroman erzählt die Geschichte zweier Leute, die sich gegen ihren Willen ineinander verlieben. Das hier ist die Geschichte zweier Menschen, die einander gegen ihren Willen verlassen. Das Ende nimmt in dem Augenblick seinen Anfang, als sie sich begegnen.“
„Warum geht es zu Ende? Sie machen auf mich eigentlich den Eindruck einer Optimistin, aber das Ende der Geschichte ist herzzerreißend. Das Letzte, was sie tun will, ist, ihn zu verlassen, und doch geht sie.“
Nora stand auf und ging zu dem Küchenschrank neben dem Kühlschrank.
„Ich bin keine Optimistin“, erklärte sie und öffnete die Schranktür. „Ich bin bloß eine Realistin, die zu viel lächelt. Der Grund, warum William und Caroline nicht zusammenbleiben, ist, dass sie nichts mit seinem Lebensstil anfangen kann. Sie hat sich nur seinetwegen auf diese Beziehung eingelassen. Es ist ihre Sexualität, die sich als Problem erweist, nicht die Liebe. Es ist, als wäre ein schwuler Mann mit einer heterosexuellen Frau verheiratet. Egal, wie sehr er sie auch liebt, ist doch jeder Augenblick, den er mit ihr verbringt, für ihn ein Opfer. Der Sex rangiert da nur an zweiter Stelle.“
„Aber nur ganz knapp, will ich meinen.“
Nora lachte. Sie schloss den Schrank und ging in die Knie, um die untere Schranktür zu öffnen. Im gleichen Moment stieß sie ein triumphierendes Lachen aus.
„Gefunden!“ Sie zog eine Tüte Marshmallows heraus. „Ich muss das Zuckerzeug immer vor Wes verstecken.“
„Er ist wohl ein ganz Süßer, was?“
„Nein, er hat Typ-1-Diabetes.
Und
mag Süßigkeiten. Keine gute Mischung. Eigentlich passt er ganz gut auf seine Ernährung auf, aber ich erwische ihn ab und zu dabei, wie er sehnsüchtig zusieht, wenn ich mir einen heißen Kakao mit Marshmallows mache.“
Zach fragte sich insgeheim, ob es wirklich der Zucker war, nach dem Wes gierte, oder nicht viel eher Nora. Er hatte definitiv Probleme, den Blick von dieser Frau zu lösen. Sie war Montagabend in ihrem unverkennbar roten Outfit schon fesselnd gewesen, doch jetzt, in eher legerer Alltagskleidung, war sie auf eine lässige Art atemberaubend. Er beobachtete, wie sie auf die Zehen rollte und sich mit der trainierten Eleganz einer Geisha erhob. Er war immer noch ganz vertieft in diese beiläufige Vorstellung von Anmut, die ihn an eine Balletttänzerin denken ließ, als sie sich über den Tisch beugte und eine Handvoll Marshmallows in ihre beiden Becher gab.
„Zach, verstehen Sie das bitte nicht falsch. Aber Sie sind irgendwie geradezu lächerlich attraktiv, wenn Sie glücklich aussehen.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und steckte sich einen Marshmallow in den Mund. „Sie genießen es nicht zufälligerweise, mit mir zu arbeiten? Der Londoner Nebel hebt sich doch wohl nicht?“
Zach nahm einen Schluck Kakao, um seine Verlegenheit zu kaschieren. Er war es gewohnt, dass die Frauen auf ihn flogen. Aber bisher war noch keine Frau ihm gegenüber so schamlos direkt gewesen.
„Da wir uns heute das erste Mal hinsetzen und gemeinsam an Ihrem Buch arbeiten“, bemerkte Zach und hüstelte verlegen, „glaube ich, ein Urteil über meinen meteorologischen Zustand könnte verfrüht sein.“
„Und wie lautet Ihr Urteil zu dem Buch?“
„Das Urteil lautet … Sie können es vielleicht tatsächlich schaffen. Aber nicht ohne ein paar gravierende Änderungen. Behalten Sie die Briefe am Anfang und am Ende bei. Aber ich will den Hauptteil des
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