Das Locken der Sirene (German Edition)
waren anscheinend ein ziemlich wichtiger Teil der SM-Philosophie. Nora hatte seinen Ringfinger an jenem Abend im Taxi berührt und danach die Hand an ihren nackten Hals gelegt. Sie hatte damit ihre abgelegten Fesseln mit seiner beendeten Ehe verglichen. Vielleicht war das der Grund, warum Nora und er so schnell eine gemeinsame Basis gefunden hatten, obwohl sie so grundverschieden waren. Sie beide durchlitten gerade eine Art Scheidung.
Aber stimmte das für ihn wirklich? Jeden Morgen, wenn er zum Briefkasten ging, erwartete er, Post von Graces Anwalt vorzufinden. Jedes Mal, wenn zu Hause sein Telefon klingelte, erwartete er, am anderen Ende Graces Stimme zu hören, die ihm erklärte, sie hätten das Ende jetzt lange genug vor sich hergeschoben. Aber bisher hatte er weder einen Anruf noch Post vom Anwalt bekommen. Wartete sie darauf, dass er die Scheidung einreichte? Nun, dann konnte sie lange warten. Es war nicht zu leugnen, dass ihre Ehe in den letzten anderthalb Jahren brüchig geworden war, aber er hatte es nicht eilig, den letzten Nagel in den Sarg zu schlagen. Mit seinem Umzug nach New York hatte er die Hoffnung verbunden, sie würde ihn nach einer Weile genug vermissen, um es noch einmal mit ihm zu versuchen. Aber Tag für Tag blieb das Telefon stumm.
Zach schloss den Internetbrowser und das Dokument, ohne einen einzigen Satz der Rezension geschrieben zu haben. Er hatte Nora vor Stunden in ihrer Küche zurückgelassen. Bestimmt hatte sie ihm inzwischen wieder eine E-Mail geschickt – sie schrieb ihm ständig E-Mails. Aber bis auf eine Erinnerung von J. P. an den Termin der nächsten Lektoratssitzung und eine Frage seiner Assistentin Mary war sein Posteingang leer. Beides konnte warten.
Er öffnete eine neue E-Mail und gab Noras Adresse ein. Ihre Adresse enthielt natürlich eine Anspielung auf ihre Lieblingsfarbe – und ihren Fetisch.
Rotgertchen
– auch wenn es lächerlich war, wenigstens konnte er es sich gut merken.
Nora
, schrieb er und zögerte. Warum schrieb er ihr überhaupt? Sie hatten heute stundenlang über ihr Buch diskutiert. Es gab im Moment eigentlich nichts mehr zu besprechen. Und angesichts dessen, dass ihre Zusammenarbeit sowieso schon viel zu eng war, wusste er, dass er ihr nur schreiben sollte, wenn es etwas mit dem Buch zu tun hatte. Was würde er sagen wollen, wenn er ihr doch schriebe? Er war im Besitz der Worte, der Sätze, seitdem er Nora kennengelernt hatte. Doch sie waren schon so sehr durch seinen Kopf gewirbelt, aufeinandergeprallt und gegen ihn gestoßen, dass nur noch kleine Fragmente übrig waren.
Nora, ich will nicht ich werde nicht es ist so verdammt lange her ich kann nicht ich denke an dich an sie es ist zu viel ich liebe noch immer aber ich habe ihr so wehgetan Grace es ist schlimmer als die Hölle ich habe ihr zu jung zu wehgetan …
Zach löschte alles, sogar Noras Adresse. Er wusste es doch besser. Wusste, dass er sich nicht in etwas hineinziehen lassen durfte, das er später bereuen würde. Diesen Fehler machte er kein zweites Mal. Sie würde es nicht schaffen, ihn vom Kurs abzubringen.
Es ist egal, sagte er sich. In fünf Wochen war er fort. In fünf Wochen konnte er in L. A. ganz von vornanfangen und es dieses Mal vielleicht sogar richtig machen. Aber wollte er überhaupt neu anfangen? Mit zweiundvierzig schien ein neues Leben eine sehr viel schlimmere Vorstellung zu sein als mit zweiunddreißig, als er und Grace geheiratet hatten und nach London gezogen waren.
Das leere E-Mail-Formular füllte immer noch den Bildschirm und wartete auf seine Worte. Er schaute auf seine Finger, die über der Tastatur schwebten. Waren es die Worte, die ihn im Stich ließen, oder seine Hände? Sie fühlten sich zu schwer an, was für ihn überhaupt keinen Sinn ergab. Ohne das Gewicht seines Eherings sollten sie sich leichter anfühlen.
Der Bildschirm wartete noch immer, der Cursor zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Zach gab eine andere E-Mail-Adresse ein.
Gracie
, schrieb er und benutzte den Kosenamen, der sie immer zum Lächeln brachte.
Bitte sprich mit mir
.
Nora stand am Küchenfenster und blickte hinaus in die sich herabsenkende Dämmerung. Die Sonne ging im Winter so früh unter, dass ganze Tage in Dunkelheit zu verstreichen schienen. Zach hatte sie schon vor einigen Stunden allein gelassen, geblieben waren nur tausend neue Ideen und Empfehlungen. Aber jetzt gerade konnte sie nur warten und nachdenken und beobachten, wie die Straßenlaterne vor dem Küchenfenster
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