Das Löwenamulett
und auf das warten, was geschehen wird. Wahrscheinlich ist Senator Metellus sogar froh darüber, dass er die Sache nicht selber zu Ende bringen muss.«
»Was wird mit ihm geschehen?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort im Grunde wusste.
»Sie werden ihn foltern, dann hinrichten. Vielleicht nach einem, vielleicht nach zwei oder drei Tagen. Je nachdem, wie gut oder wie schlecht die Laune der Folterknechte ist.«
Mir schnürte sich der Hals zu, ich wäre am liebsten schrei-end aus dem Garten gerannt. Delias Kinn begann zu zittern, sie hatte die größte Mühe, sich zu beherrschen.
»Tja«, sagte sie mit belegter Stimme, »da kann man wohl nichts machen.«
Ovid zuckte mit den Schultern. »So sind die Gesetze. Ein Sklave, der seinen Herrn tötet oder es auch nur versucht, ist des Todes. Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Aber wolltet ihr nicht herausfinden, wem dieses Amulett gehört?« Er hielt es immer noch in den Händen.
»Ja«, sagte Delia, »ja, das werden wir.« Ihre Stimme gewann an Festigkeit. »Das werden wir heute noch herausfinden. Ganz bestimmt!« Sie nahm ihrem Vater das Amulett ab und umschloss es fest mit der Faust.
Ich konnte nur nicken. Der Gedanke an Myron, der unschuldig in irgendeinem Kellerloch auf seine Bestrafung wartete, hatte meinen Mund so ausgetrocknet, dass ich kein Wort über die Lippen brachte.
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»Vielleicht werden wir den ganzen Tag unterwegs sein«, sagte Delia zu ihrem Vater. »Wartet nicht mit dem Essen auf uns.«
»Aber vergesst nicht zu frühstücken!«, rief Ovid uns noch hinterher, als wir schon durch die Gartentür im Haus ver-schwanden.
Zur dritten Stunde an den Iden des Juli, am frühen Vormittag des 15. Juli
Mirwarhundeelend.Amliebstenhätteichmichheu-lend in eine Ecke verkrochen. Ein seltsames Amulett und eine Täterbeschreibung, die auf jeden zweiten Römer zutraf – das war alles, was wir hatten. Und einen Tag, einen einzigen Tag, um den Täter in dieser unendlichen Stadt zu finden. Ein Sandkorn im Circus Maximus ausfindig zu machen, konnte kaum aussichtsloser sein.
Delia ging es keineswegs besser als mir. Wir sprachen kaum ein Wort, als wir in aller Eile unser Frühstück hinun-terschlangen, etwas Brot und Käse, eine Feige und einen Schluck Milch. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, das Sandkorn musste gefunden werden. Wir mussten es zumindest versuchen.
Auf dem Weg zum Aventin passierten wir den Circus.
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Obwohl es noch früh am Morgen war, Helios hatte eben erst seine Rosse angeschirrt, strömten schon Hunderte von Menschen in seine Richtung. Es war der letzte Tag der Ludi Apollinares und der letzte Tag, an dem es Wagenrennen gab.
Am Tag zuvor hatte ich mich noch von den dahinfliegenden Gespannen und dem Trubel auf den Rängen mitreißen lassen, jetzt hatte ich keinen Sinn mehr dafür. Die ersten Wettbüros öffneten ihre Türen, Straßenhändler waren mit Bauchläden unterwegs und boten warme Würstchen, geröstete Haselmäuse, Honiggebäck oder Getränke an. Mehrmals wurden wir von zwielichtigen Gestalten angesprochen, die uns fragten, ob wir noch Eintrittsmarken bräuchten, die besten Plätze für nur zehn Sesterzen. Wir beachteten sie nicht, rannten stattdessen durch breite Straßen und enge Gassen, über weite Plätze und steile Treppen den Esquilin hinunter und den Aventin hinauf, bis wir endlich, atemlos, nass-geschwitzt und mit roten Köpfen, vor dem Nemesistempel standen. Er lag an einem kleinen Platz am Westhang des Hügels. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über die Häuser und Tempel der Stadt.
Der Tempel war klein und alt. Seine Säulen, sein Giebel, seine Mauern und seine Stufen sahen reichlich mitgenommen aus. Sonne und Regen, Hitze und Kälte hatten kräftig daran genagt. Auch der Altar vor den Stufen hatte gewiss schon bessere Tage gesehen.
»Wir brauchen einen Priester!«, schnaufte Delia und blickte sich um. »Wo, bei allen guten Göttern, sollen wir hier einen Nemesispriester finden?«
»Im Tempel«, sagte ich.
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»Wir können doch nicht einfach so in den Tempel gehen«, sagte Delia entrüstet. »Das ist streng verboten! Den Tempel dürfen nur Priester betreten.«
»Aber wir könnten dort jemanden finden«, beharrte ich.
»Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist auch niemand da. Es ist ja noch sehr früh am Morgen.«
»Kann ich euch helfen?«
Wir blickten uns erschrocken um. Hinter uns stand ein alter Mann, der uns freundlich anlächelte. Er hatte lichtes graues Haar, einen grauen Bart und war
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