Das Los: Thriller (German Edition)
hielt die Bahn ihre Gleise sauber. Auch Pradeep hatte sich so schon ein paar Rupien verdient, bis er den Anblick der verstümmelten Körper nicht mehr hatte ertragen können.
Einer der Kerle stand genau vor ihm, sein von Narben übersätes Knie war auf Höhe seiner Augen. Plötzlich schoss das Knie auf ihn zu, doch er war schon wach genug, um sich von dem Angriff nicht überraschen zu lassen. Während er seinen Oberkörper blitzschnell nach hinten bog, griff er nach dem Bein, das zum Knie gehörte, und drehte es mit einer raschen Bewegung gegen den Uhrzeigersinn. Mit einem spitzen Schrei fiel der Besitzer des Beins auf den Rücken, und ein schmutziges T-Shirt kam in Pradeeps Sichtfeld. Der nahezu ungebremste Aufprall des Körpers auf dem Sand wirbelte Staub empor. Ein Gegenstand, der die Sonne reflektierte, flog über Pradeep hinweg und landete hinter ihm. Sein Handy. Das musste der Junge eben aus seiner Tasche geholt haben.
Pradeep stutzte kurz. Er besaß doch kein Handy mehr.
Dann fiel ihm innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde sein Besuch bei Sushil im Telefonladen wieder ein. Der Tee, die Blutabnahme. Das Telefon, das Sushil ihm überreicht hatte. Darauf würden sie ihn anrufen, wenn es losging, hatte er gesagt. Aber wie war er hier auf die Bahngleise gekommen? Er erinnerte sich daran, wie ihm bei Sushil plötzlich schummerig geworden war. Er musste das Bewusstsein verloren haben. Vielleicht wegen des vielen Blutes, das sie ihm abgezapft hatten. Oder … Ihm kam ein Gedanke, der ihn erschreckte. Während er den Arm nach dem Handy ausstreckte, tastete er mit der anderen Hand seinen Rücken ab. Keine Narbe. Er hatte seine Niere noch, da man sie ja wohl nicht durch den Mund oder den Arsch entfernen konnte.
In dem Moment, als er das Handy zu fassen bekam, erreichte ihn auch schon einer der anderen Jungen. Auch das schmutzige T-Shirt neben ihm schien sich wieder zu berappeln. Immer noch kauerte Pradeep auf dem Boden, sodass ihn die Schläge am Hinterkopf trafen. Glücklicherweise wurden sie mit der Faust und nicht mit einem Brett oder einer Stange ausgeführt. Verzweifelt rammte er seine Zähne in das nackte Bein vor sich und hielt es mit seiner freien Hand fest umklammert. Pradeep vernahm einen Aufschrei und musste weitere Faustschläge auf den Kopf einstecken. Er kam sich vor, als würde er mit Riesen kämpfen. Doch er verbiss sich in den Oberschenkel, und mit aller Kraft riss er ein Stück Fleisch heraus und spuckte es aus.
Warmes Blut lief über sein Kinn, was seine Sinne nur noch mehr schärfte. Pradeep wusste, dass es nun um alles ging. Hier zwischen den Bahngleisen waren sie weit weg von der nächsten Ortschaft, und es würde ihm niemand zu Hilfe kommen. Wenn er sich nicht vorsah, dann würden die Sammler doch noch ihre Leiche und somit ihre Rupien bekommen.
Schon war er auf den Beinen und konnte sich den Jungen, der ihm das Handy gestohlen hatte, mit einem Fußtritt vom Leib halten. Dann legte er schnell mehrere Meter zwischen sich und seine beiden Gegner. Doch zwei weitere Jungs aus der Gruppe, die weiter weg hinter den Gleisen nach Leichen gesucht hatten, kamen nun von vorn auf ihn zugerannt. Einer hielt eine lange Machete in der Hand.
Pradeep blickte sich um. Die nächsten Hütten und damit auch die nächste Straße waren weit entfernt. Er spürte, dass seine Kraft nicht genügte, um dorthinzusprinten. Auch würde er es kaum mit den vier Kerlen gleichzeitig aufnehmen können.
Vor sich sah er die Gesichter von Janni, Gayoor, Parvez und vor allem von Pandita. Er war so kurz davor, sie zu retten. Sollte es tatsächlich nun so zu Ende gehen? Sollten seine Nieren, von denen jede viele tausend Rupien wert war und Pandita retten konnte, gemeinsam mit etlichen gebrochenen Knochen in einem toten Sack aus Haut für hundertfünfzig Rupien an die Bahn verkauft werden?
Plötzlich spürte er ein Zittern in seinen Beinen. Es war aber kein Zittern der Muskeln im eigentlichen Sinne, sondern eher ein Vibrieren, das eine äußere Ursache hatte – und die er nur zu gut kannte. Als er sich umdrehte, erblickte er die Front einer Lokomotive, die aus Richtung der Stadt auf ihn zukam. Noch war sie vielleicht fünfhundert Meter entfernt. Wenn er sich beeilte, konnte er kurz vor der Lok die Gleise überqueren und den Zug zwischen sich und seine Verfolger bringen. Wenn ihm dies gelang, hatte er genügend Zeit, um zu verschwinden, denn die Züge bestanden in der Regel aus vielen Waggons. Er schaute sich nach den anderen um.
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