Das Los: Thriller (German Edition)
schon lange tot.«
»Ich kannte sie nur kurz, aber gut. Es war wie ein gemeinsamer Tanz auf dem Ball des Lebens. Aber dieser eine Tanz war voller Gefühl, voller Leidenschaft und Harmonie. Ich erinnere mich heute noch an ihre zarten Hände, ihre eleganten Bewegungen. Dass ich sie nie vergessen habe, seht Ihr daran, dass ich Euch beim Karneval sogleich erkannte. Trotz der Maskierung. Ihr habt ihre Schönheit geerbt.«
Marie lächelte verlegen.
»Und nun hat dieser Calzabigi, dieser Schuft, sich Eurer Schönheit als sein Eigentum versichert«, bemerkte er mit beleidigtem Unterton. »Wann und wo habt Ihr ihn überhaupt geheiratet?«
Marie schaute sich um, als wollte sie überprüfen, dass sie niemand belauschte.
»Wenn Ihr ein Geheimnis für Euch behalten könnt – wir sind eigentlich gar nicht miteinander verheiratet«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Er tat überrascht. »Nicht verheiratet? Aber Ihr nennt Euch doch Signora di Calzabigi!«
»Es ist mehr ein Geschäft«, entgegnete sie unsicher. »Er hat mich aus Genua, wo ich gelitten habe, hier nach Berlin holen lassen, damit ich als seine Gemahlin auftrete.«
Er blickte sie erfreut an. »Und was springt dabei für Euch heraus?«
»Ich habe bei meiner Ankunft eine Kammerfrau und eine Garderobe nach meiner Wahl erhalten. Zudem zahlt er mir einen monatlichen Betrag zu meiner beliebigen Verfügung als Nadelgeld. Bleibe ich ein Jahr und erhalte dann meine Freiheit wieder, bekomme ich hundert Louidor und kann alle geschenkten Sachen behalten. Bleibe ich jedoch, bis er mich tatsächlich heiratet, so bekomme ich zehntausend Taler, von denen angenommen werden soll, dass dieselben von mir als Mitgift zugebracht werden. Stirbt er jedoch vor einer Hochzeit, so erhalte ich die zehntausend Taler aus seinem Nachlass.« Marie rang nach Atem, so schnell hatte sie erzählt.
Er verzog beeindruckt die Mundwinkel. »So wäre es für Euch am besten, er würde sterben«, schlussfolgerte er mit einem Grinsen. »Ihr würdet die zehntausend Taler erhalten und wäret dennoch eine freie Jungfer. Eine freie, reiche Jungfer!«
»Sagt so etwas nicht!«, rief sie empört aus. »Zudem …«
»Was?«
»Nur hat er keine zehntausend Taler. Als wir die Abmachung trafen, gingen er und ich davon aus, dass er durch dieses vermaledeite Lottospiel reich würde. Und nun hörte ich neulich ein Gespräch zwischen ihm und einem Fremden an und musste erfahren, dass er sogar Schulden hat! Ich fürchte, noch nicht einmal die hundert Louidor könnte er mir zahlen, wenn ich demnächst meine Freiheit verlange! Eine recht unerfreuliche Situation.«
»Das ist wirklich misslich«, pflichtete er ihr bei. »So seid Ihr in einer Ehe gefangen, die keine ist, und Euch ist dafür Geld versprochen, das es nicht gibt. Klingt nach einem faulen Handel für Euch. Es sei denn, Ihr liebt ihn?« Er betrachtete sie gespannt.
»Ihn lieben?«, rief sie aus. »Er mag eine stolze Erscheinung, ein galantes Auftreten und im Kern auch ein gutes Herz haben. Aber wie kann ein Hund seinen Herrn lieben, wenn sein Leben davon abhängt, dass er ihn füttert? Nein, Liebe kann sich nur dort entfalten, wo es Freiheit gibt! Schaut Euch den König an. Er züchtet in Sanssouci Orangen und Bananen, wie ich gehört habe. Die Pflanzen mögen sogar Früchte geben, und sie mögen dem König süß erscheinen. Doch würde er die Pflanzen, wenn es kalt wird, nicht in den Gewächshäusern unterbringen und sie ständig mit Wärme versorgen, sie würden es vorziehen, zu sterben, und einige ereilt dieses Schicksal jeden Winter. Sie gehören hier einfach nicht her. Und nun frage ich Euch: Wie süß sind Früchte wirklich, die von unglücklichen Pflanzen stammen?«
Er hatte auf der Bettkante gesessen und regungslos ihren Worten gelauscht. Beeindruckt erklärte er schließlich: »Welch eine Poesie aus Eurem Mund! Ihr sprecht fast wie Voltaire.«
Nun wurde auch ihr bewusst, wie sehr sie sich hatte hinreißen lassen. Sie tupfte mit dem Taschentuch über ihren Mund, als wolle sie einen Rest Worte von ihren Lippen wischen.
Nach einer Weile des Schweigens erhob er sich und kam zu ihr hinüber. Er kniete vor ihr nieder und ergriff ihre Hand. Sanft küsste er ihren Handschuh. Dann begann er, den Handschuh langsam vom Arm herabzurollen, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
»Aber sagt«, hauchte er. »Seid Ihr auf meine Nachricht hin nur gekommen, um alte Geschichten über Eure Frau Mama zu hören und mir von Eurem … Gemahl zu berichten, oder seid
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