Das Los: Thriller (German Edition)
Ihr vielleicht auch ein kleines bisschen an meiner Gegenwart interessiert?«
Mittlerweile hatte er damit begonnen, den Handschuh an ihren Fingerspitzen mit seinen Zähnen, die weiß und stark zwischen vollen Lippen hervorschauten, Finger für Finger in die Länge zu ziehen. Schließlich streifte er ihn mit einer raschen Bewegung ab und ließ ihn mit spitzen Fingern zu Boden gleiten. Nun küsste er sie auf ihrem entblößten Handrücken.
Sie beantwortete dies mit einem verlegenen Kichern.
»Genauso zart wie die Hände Eurer Mutter«, sagte er und drückte ihre Hand an seine Stirn. Sie war heiß und ein wenig feucht. Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Wenngleich die Hände nicht die zarteste Partie Eurer Mutter waren.«
Marie schloss die Augen und legte ihren Kopf in den Nacken.
Mit einem geübten Handgriff bahnte er sich von unten den Weg durch die Schichten ihres Rockes, woraufhin sie am ganzen Körper zu beben begann.
»Haltet ein! Wir kommen dafür in die Hölle!«, keuchte sie.
»Nur wer sündigt, kann auf Vergebung hoffen«, flüsterte er, ohne aufzuhören. »Und diese Gier ist die natürlichste von allen!« Er beugte sich vor und presste seine Lippen auf ihre.
Suchend legte sie ihre Hände an seine Schultern. Mit einem Ruck sprang sie auf und stieß ihn gleichzeitig von sich weg, sodass er das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken fiel.
Während er sich mit seinen Armen abstützte, begann er laut zu lachen. »Ihr habt Temperament!«, rief er aus, ohne Anstalten zu machen, sich zu erheben. »Das macht Euch nur noch begehrenswerter!«
Doch Marie ignorierte seine Worte. Nach Luft ringend, ordnete sie ihre Kleidung und eilte auf die Tür zu, ohne sich nach ihm umzudrehen.
»Ich wollte Euch nicht brüskieren!«, rief er ihr nach. »Aber Ihr habt Besseres verdient! Überlegt, ob Ihr gefangen bleiben wollt oder mit mir die Freiheit kostet!«
Einen Augenblick später hörte er ihre schnellen Schritte auf der hölzernen Treppe, kurz danach das Schlagen der Haustür. Er streckte alle Gliedmaßen von sich und begann laut zu lachen. Dann leckte er mit seiner Zunge über seine Lippen.
Er hatte genügend Frauen geküsst, um zu wissen, dass er ihr Herz und – was noch wichtiger war – ihren Verstand erobert hatte. Auch wenn das niedliche Fischlein jetzt weggeschwommen war: Es hatte den Köder und somit auch den Haken geschluckt. Nun begann das übliche Gezerre an der Angelleine. Doch irgendwann würde die Beute erschöpft und nach Atem ringend vor ihm liegen, da war er sich ganz sicher.
Mit einer geschmeidigen Bewegung kam er wieder auf die Beine. Er ging zum Kamin in der Ecke des Zimmers und löste mit einiger Kraftanstrengung eine locker sitzende Kachel. Dann griff er in das zum Vorschein kommende Loch und holte eine kleine Pistole heraus.
»Ein schöne Waffe für eine schöne Frau«, dachte er laut.
Er kniff sein rechtes Auge zu und schaute mit dem anderen durch die Kimme über den Lauf. Auch wenn er letztlich kein Priester geworden war – eines hatte er nach Erhalt der niederen Weihen gelernt: Manchmal brauchte es Schmerz, damit eine Sünde vergeben werden konnte.
49
M UMBAI
Irgendjemand tätschelte sein Gesicht. Etwas zu fest, um gut gemeint zu sein.
»Scheiße, Mann, der ist ja gar nicht tot!«, rief eine jugendliche Stimme im Tonfall des Bedauerns.
»Dann schau nach, ob er etwas bei sich trägt!«, befahl eine andere Stimme, die etwas weiter weg war.
Pradeep, der allmählich wieder zu Bewusstsein kam, spürte auf einmal, wie eine Hand seinen Körper entlangfuhr und in seiner Hosentasche verschwand. Sie bewegte sich darin hin und her, wie eine lebendige Ratte. Dann umschloss sie etwas und wurde wieder herausgezogen.
»Ein Handy. Ein Scheißteil, aber es ist an!«
Mit einem Ruck fuhr Pradeeps Oberkörper hoch, sodass er nun aufrecht saß.
In Sekundenbruchteilen die Situation zu erfassen gehörte zu den überlebenswichtigen Eigenschaften, die man als Straßenjunge erlernen musste. Es war noch hell, die Sonne stand jedoch tief. Nachmittag also. Vor sich erkannte er eine Gruppe junger Männer, vielleicht waren unter ihnen auch noch Kinder. Ihrer Kleidung nach waren sie Müllsammler. Keine zehn Meter entfernt verliefen hintereinander mehrere Bahngleise. Also keine Müll-, sondern Leichensammler. Er wusste, dass sie von der Bahn bezahlt wurden: Pro aufgesammelte Leiche erhielt man hundertfünfzig Rupien – wenn sie ganz war. Sonst wurde nach der Größe der Stücke gezahlt. Auf diese Weise
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