Das Los: Thriller (German Edition)
In ihren Blicken erkannte er, dass auch sie begriffen, was er vorhatte.
Entschlossen rannte er auf das Gleis zu, auf dem der Zug sich näherte. In seinem Kopf maß er Abstände, schätzte Geschwindigkeiten. Kurz betete er zu Gott. Der Zug kam schneller als von ihm erwartet heran. Die Zahl Fünf kam ihm wie aus dem Nichts in den Sinn. Gleichmäßig zählte er herunter: fünf, vier, drei, zwei …
Bei eins sprang er mit einem großen Satz über das Schienenbett und ließ sich fallen. Er rollte über die Schulter ab, wobei er sich die Haut an dem scharfkantigen Schotter aufschürfte. Ein Sog erfasste ihn, dann raste eine Stahlschlange aus Eisenbahnwaggons an ihm vorbei. Er blickte den Zug entlang und nahm erfreut zur Kenntnis, dass er der Einzige auf dieser Seite der Gleise war. Das bedeutete, dass er sie abgeschüttelt hatte. Ein wenig mühsam kam er hoch, dann lief er, mit einem Bein humpelnd, auf die Hütten zu, die ihm am nächsten erschienen. Seine Hand hielt noch immer das Handy fest umschlossen. Keine vierhundert Meter, und er würde in Sicherheit sein.
Ab sofort war er ein Gefäß. Ein Gefäß mit einer wertvollen Fracht, die er abliefern würde, sobald dieses Handy in seiner Hand klingelte.
50
H AMBURG
Henri, der auf dem Beifahrersitz saß, bat den Taxifahrer, an der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen. Inzwischen hatte er sich zumindest äußerlich in einen Gentleman verwandelt: In einem Geschäft für Herrenmoden hatte er seinen Trainingsanzug abgelegt und mithilfe von Chads Reisekasse eine Anzughose, ein Jackett, ein weißes Hemd, schwarze Schuhe und sogar einen Mantel erworben.
»Wo fahren wir genau hin?«, fragte Trisha etwas unsicher.
Zwar hatten Henri und sie sich am Abend zuvor noch stundenlang über die Lotterie und ihre Pläne unterhalten, doch in manchen Punkten waren sie nicht allzu sehr ins Detail gegangen. Und obwohl sie befürchtet hatte, dass er aufgrund der langen Haftzeit sexuell ausgehungert war, hatte er sie auch während der Nacht in Ruhe gelassen und wie ein Kavalier auf der Couch geschlafen. Dennoch fühlte sie sich noch immer nicht ganz wohl bei dem Gedanken, in einer fremden Stadt mit einem fremden Kriminellen unterwegs zu sein.
»Es ist eine Art Reisebüro«, antwortete Henri.
»Eine Art Reisebüro?«, wiederholte Trisha ein wenig skeptisch. »Du hattest vorhin schon eine ›Art Taxi‹ bestellt.«
»Wart’s ab«, erwiderte Henri mit einem vielsagenden Lächeln.
Sie hielten an einer roten Ampel. Ein paar Sekunden später kam ein Polizeifahrzeug neben ihnen zum Stehen. Henri stützte seinen rechten Ellbogen auf den Fensterholm, sodass die Hand sein Gesicht verdeckte.
»Was passiert, wenn sie dich erwischen?«, fragte Trisha von hinten.
»Dann wandere ich zurück in meine Zelle«, entgegnete Henri.
»Und bekommst du wegen der Flucht aus dem Gefängnis eine zusätzliche Strafe aufgebrummt?«
Henri schüttelte den Kopf. »Flucht allein ist straffrei. Solange man dabei niemanden verletzt und keine anderen Straftaten begeht.«
Die Ampel sprang auf Grün, und der Streifenwagen fuhr geradeaus, während sie links abbogen.
»Ich werde nie wieder zurück in den Knast gehen«, bemerkte Henri trotzig. »Jetzt ruf diesen Notar an, damit wir wissen, wohin die Reise geht!«
Trisha fischte ihr Handy aus der Tasche und wählte erneut die Nummer des Notars in Rom. Henri und sie hatten beschlossen, einen letzten Versuch zu unternehmen, um mehr aus ihm herauszubekommen. Wieder meldete sich eine Frauenstimme, wieder wurde Trisha in einer Warteschleife mit schrecklicher Musik geparkt. Sie hatte befürchtet, an der Telefonzentrale abgewimmelt zu werden. Um dies zu verhindern, hatte sie zu einer Notlüge gegriffen und behauptet, neue Informationen zum Tod des Mönchs zu besitzen. Im nächsten Augenblick hatte die Sekretärin sie zu Aurelio durchgestellt.
»Si?« , meldete sich schließlich die Stimme des Notars.
»Trisha Wilson, Sie erinnern sich sicherlich am mich. Ist meine Teilnahmeerklärung mittlerweile bei Ihnen eingetroffen?«
»Per Post aus Las Vegas. Pater Pius muss sie noch vor seinem … Ableben abgeschickt haben.«
»Dann haben Sie nun insgesamt drei, nicht wahr?«
»Ich sagte Ihnen doch, ich –«
»Kommen Sie. Ich habe mein ganzes Vermögen eingesetzt, und das war nicht wenig.«
Eine Pause entstand. Dann antwortete Aurelio: » Si , drei Teilnehmer.«
Trisha kannte zwei, was der Notar nicht wusste. Henri und sie.
»Dann fehlt noch einer, damit die Ziehung stattfinden
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