Das Los: Thriller (German Edition)
Ewigkeit halten soll. Aber immer …«
Sie hielt inne und richtete ihren Blick direkt auf ihn. Er schaute in ihre Augen, und sofort erfüllte ihn eine große Traurigkeit.
»Aber immer«, fuhr sie fort, »muss die Brücke groß genug sein, um von einem Ufer zum anderen zu reichen. Stets müssen die Enden auf beiden Seiten festen Grund finden. Und selbst wenn dies der Fall ist, genügt es noch nicht; sie muss darüber hinaus auch etwas aushalten können. Es gibt nicht viele Brücken, und umso breiter ein Fluss ist, desto seltener werdet Ihr welche finden.«
Tränen schossen Calzabigi in die Augen, und sofort wandte er den Kopf ab. Eine Gruppe junger Leute winkte ihnen johlend vom Ufer zu. Plötzlich hasste er das Schwanken des Bootes, das Plätschern des Wassers, das sich am Rumpf brach. Am liebsten wäre er weggelaufen, doch das ging nicht. Zwar konnte er, der am Tyrrhenischen Meer aufgewachsen war, gut schwimmen. Doch manchmal wurde eine Niederlage erst durch die Flucht besiegelt. Außerdem gab es viele verschiedene Formen der Hinneigung, und wenn er die reinste schon nicht haben konnte, so war er immerhin bereit, mit weniger vorlieb zu nehmen, solange ihm nur etwas blieb. Entschlossen wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen und drehte sich Marie wieder zu.
»Genug von Flüssen und Brücken«, sagte er und stellte erfreut fest, dass es ihm gelang, mit der notwendigen Kühle zu sprechen. »Ich habe dich auch zu dieser Spazierfahrt eingeladen, da das Jahr nun bald um ist. Du hast dir deinen Lohn redlich verdient. Jedoch müsste ich für meine Dispositionen wissen, ob du dich schon entschieden hast: ob du gehst und das Geld nimmst – oder ob du bleibst und mein Angebot über zehntausend Taler für eine Ehe vor dem Herrn annimmst.«
Nun war sie es, die sichtlich um Contenance rang, und dies verlieh ihm neue Sicherheit.
»Bevor du fragst: Die Lotterie hat sich nun tatsächlich wie der Fluss unter uns entwickelt und bei den letzten Ziehungen Gewinn abgeworfen. Die Kasse ist gut gefüllt, und ich habe auch erstmals den vereinbarten Lohn entnommen. Dich zu bezahlen, ob so oder so, wird mir daher keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Insofern sei unbesorgt.«
Jetzt, wo es ums Geschäft ging, fühlte er sich wieder in seinem Element, und mit jedem Wort, das er ausgesprochen hatte, wurde ihm gewahr, wie er sich über Marie erhob. Tatsächlich war sie in sich zusammengesunken und spielte nervös mit den langgezogenen Fingern ihrer Handschuhe.
»Ich … habe noch keine endgültige Entscheidung getroffen«, antwortete sie schließlich, ihre Stimme klang fast weinerlich.
»Nichts liegt mir ferner, als dich zu drängen«, entgegnete er gönnerhaft. »Aber bedenke, dass ich für den Fall der Fälle Vorkehrungen treffen muss …«
Welche dies sein könnten, wenn sie ihn verlassen sollte, wusste er nicht. Seit ihrer Ankunft vor einem Jahr hatte Marie gewaltige Flügel bekommen. Jedoch hoffte er inständig – auch wenn er ihr so offenherzig die Freiheit anbot -, dass diese Schwingen nicht groß genug waren, um damit zu fliegen. Und falls doch, so hatte er ein letztes Pfand, das er ihr als Gewicht an das Bein würde binden können.
Eine größere Welle traf gegen die Bootswand, und ein wenig Gischt schlug über sie.
»Ihr seid gut zu mir, und das weiß ich sehr wohl zu schätzen«, sagte Marie, nachdem sie sich das Wasser aus dem Haar gestrichen hatte. »Andererseits fühlt es sich nicht richtig an, was wir tun.«
Calzabigi erwiderte nichts. Sollte sie ruhig ein wenig mit den Flügeln schlagen.
Sie seufzte. »Ich könnte zurück nach Paris gehen, vielleicht als Schneiderin arbeiten«, sinnierte sie weiter.
Immer noch schwieg er und versuchte, möglichst unbeteiligt zu wirken. Als er noch Kind gewesen war, hatte seine Familie einen Vogel aufgenommen, der sich das Bein gebrochen hatte, und ihn in einem Käfig gehalten. Als seine Eltern eines Tages beschlossen hatten, ihm die Freiheit zu schenken und die Tür des Käfigs öffneten, flog der Vogel dennoch nicht davon. Er blieb bei ihnen, und manchmal saß er fröhlich singend auf dem Käfig. »Er hat hier alles, was er braucht«, hatte sein Vater das Verhalten des Vögleins sich und seiner Familie erklärt. Daran musste Calzabigi jetzt denken. Und an den gewichtigen Grund, der Marie, wie er hoffte, zum Bleiben bewegen konnte. Dachte sie denn selbst nicht daran?
»Was wird aus Charles, wenn ich gehe?«, fragte Marie unvermittelt.
Ein Gefühl des Triumphs breitete sich
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