Das Los: Thriller (German Edition)
verzückte ihn bereits. Er hatte durchaus damit gerechnet, dass sie seiner anonym gestalteten Einladung nicht Folge leisten würde. Doch schien sie einem Abenteuer nicht abgeneigt. Langsam schlich er sich an sie heran und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie warf den Kopf in den Nacken, und ihr schüchternes Lächeln wich einem fast erschrockenen Gesichtsausdruck.
»Ihr?«, fragte sie sichtlich erstaunt.
»Wen hattest du denn sonst erwartet?«, scherzte Calzabigi.
Marie fasste sich an den Hals. Das Fichu, das sie darüber trug, richtete sie so, dass es ihren weitgefassten Ausschnitt ganz bedeckte.
»Eure Einladung trug keine Unterschrift«, erwiderte sie verlegen. »Aber wer sollte es anderes sein als Ihr. Und hätte ich nicht Euch erwartet, ich wäre wohl kaum hierhergekommen.«
Calzabigi umrundete sie und hielt ihr einladend seine Hand entgegen. »So erlaube mir, meine Gattin, dich zu geleiten. Wie ich schrieb, beabsichtige ich, mit dir einen Ausflug zu unternehmen.«
Mit sicherem Griff half er ihr auf und führte sie über den Steg zu einem kleinen Holzboot, das dort auf sie wartete. Mithilfe des Schiffers, der sie unwirsch begrüßte, gelangten sie sicher auf ihre Plätze. Er stieß das Boot vom Steg ab, und dann glitten sie gemächlich über das Wasser.
Schweigend passierten sie die in den Fluss geschlagenen Eichenpfähle, die nur eine schmale Schneise für den Schiffsverkehr frei ließen.
»Schau den schwimmenden Balken dort.« Calzabigi zeigte auf einen mächtigen Baumstamm, der neben ihnen im Wasser lag. »Mit ihm wird des Nachts diese schmale Öffnung geschlossen, um Schmuggel zu verhindern. Ich habe den Schiffer angewiesen, durch den Unterbaum raus nach Charlottenburg zu fahren.«
Marie beobachtete ängstlich, wie sie das Pfahlwerk umschifften.
»Du wirst sehen«, fuhr er fort. »Die Spree wird sich schon bald verbreitern, und an beiden Ufern wirst du nichts als Wald und Natur erblicken.«
Marie schaute weiter stumm in das trübe Wasser. Und obwohl sie ihre Haare offen trug, wirkte sie auf Calzabigi heute steifer und verschlossener denn je.
»Meine Heimatstadt liegt nicht weit entfernt von der Mündung des Flusses Arno«, begann er zu erzählen. »Als Kind bin ich mit meinem Vater flussaufwärts gefahren, wenn wir die von uns hergestellte Seife per Boot nach Empoli, Pisa oder Florenz brachten.«
Er musterte Marie, die ihren Blick immer noch fest auf den Fluss gerichtet hatte.
»Eines Tages bemerkte ich, dass mein Vater am Bug stand und hemmungslos weinte«, fuhr er fort. »Ich fragte ihn, warum er so traurig sei, und er deutete auf den Fluss um uns herum.«
Marie schaute auf. Erstmals, seit sie das Boot betreten hatten, schien sie Calzabigi ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ein Fluss, sagte mein Vater zu mir, ist eine ernste Angelegenheit. Das Wasser entspringt aus der dunklen Geborgenheit seiner Quelle, und dann fließt es den vom Flussbett vorgegebenen Weg, jedoch stets nur in eine Richtung. Dort, wo es gestern war, kann es niemals wieder hingelangen. Bis es am Ende vom Meer aufgenommen wird und endlich fließen kann, wohin es will.«
»Wie das Leben«, sagte Marie mit trauriger Stimme.
»Wie das Leben«, wiederholte Calzabigi und schaute ihr tief in die Augen.
»Mein Vater war ein sentimentaler Mann«, ergänzte er mit einem Lächeln.
Eine Weile sahen sie wieder zum Ufer und schwiegen, doch nun fühlte Calzabigi sich ihr in der Stille über dem Wasser näher.
»Oder wie die Liebe«, sagte er schließlich.
Maries Kopf fuhr herum.
»Manchmal schlägt die Liebe ähnlich schlängelnde Pfade ein wie ein Fluss. Vorbei an scheinbar verlassenen oder auch überbevölkerten Gegenden, bevor sie, wie die Spree hier, durch ein Nadelöhr fließt und sich danach verbreitert zu einem ebenso ruhigen wie tiefen Gewässer – das imstande ist, alles zu tragen, was sich ihm anvertraut.«
Schweiß bildete sich in seinen Handflächen, und auch sein Gesicht schien im kühlen Wind plötzlich zu glühen. Während er sie musterte, bemerkte er, wie sie sich auf die Unterlippe biss, sodass diese weiß wurde.
»Die Liebe ist nicht wie ein Fluss!«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Wenn der Fluss wie das Leben sein soll, dann ist die Liebe eine Brücke, welche die beiden gegensätzlichen Seiten des Flusses miteinander verbindet. Das kann ein vom Blitz gefällter Baum sein, ein flüchtig aus Holz gezimmerter Bretterweg oder aber eine Brücke aus Stein, an der lange gemauert wurde und die für die
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