Das Los: Thriller (German Edition)
Mutter entgegen.
»Meine Mobilfunknummer. Er soll anrufen. Es geht … um sehr viel Geld!«, sagte Henri.
Bei der Übersetzung ging ein Ruck durch die Mutter, offenbar ausgelöst durch das indische Wort für »Geld«. Plötzlich ergriff sie Trishas Hand und sagte etwas zu ihr. Erst langsam und leise, dann immer schneller und lauter.
Trisha blickte in Augen, die Verzweiflung ausdrückten.
»Was will sie?«, fragte sie den Fahrer.
»Geld! Was sonst?«, antwortete er mit einem hämischen Lächeln. »Sie wollen hier alle nur Geld!«
Die Mutter begann zu weinen. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ständig wiederholte sie ein Wort. Ihre Finger krallten sich so fest in Trishas Hand, dass es schmerzte und sie ihren Arm instinktiv zurückzog. Plötzlich stöhnte das kleine Mädchen leise auf. Sogleich umfasste die Mutter den kleinen Kopf und drückte schluchzend ihr Gesicht auf das des Kindes.
»Komm!«, vernahm Trisha Henris Stimme und spürte, wie er sie an der Schulter berührte. Sanft zog er sie hoch.
»Wir müssen ihr helfen«, stammelte Trisha, während Henri sie Richtung Ausgang zerrte. Den Blick fest auf das Mädchen gerichtet, versuchte sie, seinen Griff zu lösen. Als dies nicht gelang, kniff sie ihn in die Hand.
»Hast du nicht gehört? Wir müssen ihr helfen!«, rief sie und spürte, wie ihr das Wasser in die Augen stieg. Henris Umrisse verschwammen vor ihren Augen wie ein Aquarell.
»Komm, wir gehen«, insistierte Henri und zog sie aus der Hütte heraus.
»Wie kannst du nur so herzlos sein? Lernt man das im Knast?«, herrschte sie ihn mit hysterischer Stimme an und wischte sich eine Träne weg. Ihr Blick fiel auf ihren indischen Begleiter, der sie verblüfft anschaute. Henri machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie zu ihrer Überraschung. Sein nasses Hemd blieb förmlich an ihrem T-Shirt kleben. Für einen flüchtigen Augenblick strich er ihr über das Haar, was sie tatsächlich beruhigte.
»Ich bin nicht herzlos. Aber schau dich hier mal um«, sagte er mit sanfter Stimme. »Hast du auf dem Weg hierher nicht die vielen bettelnden Kinder gesehen? Die Blinden, die Verkrüppelten? Was meinst du, wie das in den anderen Hütten hier aussieht, wenn du sie betrittst? Du kannst das Elend hier nicht bekämpfen – nur versuchen, die Bilder wieder aus dem Kopf zu bekommen, sobald wir diese Stadt und dieses Land hinter uns lassen.«
»Aber dieses kleine hilflose Kind …«, erwiderte Trisha mit tränenerstickter Stimme. »Hast du gesehen, wie ihre Mutter leidet? Sie verliert ihre Tochter!« Bei diesen letzten Worten musste sie schluchzen. Sie wunderte sich über sich selbst. Vielleicht war es die Zeitverschiebung oder das Klima, das sie so mitnahm.
»Wer weiß, vielleicht gewinnt ihr Vater ja bald im Lotto«, sagte Henri tröstend und legte seinen Arm um sie, während sie langsam dem Rikschafahrer folgten.
»Wie kann der so herzlos sein und seine Frau und sein sterbendes Kind hier alleine lassen, in diesem Slum?«, fragte Trisha wütend.
Henri zuckte mit den Schultern. »Wir beide haben noch nie in so einem Slum gelebt. Da fällt es schwer, über die Menschen hier zu urteilen. Und die Gesetze der Evolution setzen sich auch hier durch.«
»Er hat es wohl kaum verdient, an dieser Lotterie teilzunehmen!« Trisha machte ihrem Ärger weiter Luft. »Und wie sollen wir ihn hier überhaupt finden! Mumbai hat über zwölf Millionen Einwohner!« Sie schnupfte in ein Taschentuch, das Henri ihr gereicht hatte.
»Dann sind unsere Chancen eins zu zwölf Millionen«, sagte er nachdenklich, nachdem er sie wieder losgelassen hatte. »Wir werden uns schon was einfallen lassen!«
Er versuchte optimistisch zu klingen, doch sein resignierter Gesichtsausdruck verriet Trisha etwas anderes.
Bevor sie um die nächste Ecke bogen, drehte Trisha sich noch einmal um. Im Eingang der Hütte erkannte sie die Mutter. Ihr Gesicht lag im Dunkeln, doch sie schien ihnen hinterherzuschauen. Vielleicht hatte Henri recht, und sie konnte nicht helfen. In einem irrte er sich jedoch.
Sie würde das, was sie hier gesehen hatte, so schnell nicht vergessen.
54
B ERLIN , 1764
Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einer Bank am Pier. Er erkannte ihre prächtigen Haare bereits aus der Ferne. Sie waren heute nicht, wie sonst in seiner Gegenwart, zu einem Zopf geflochten, sondern fielen offen über ihre Schulter. Die dunkle Farbe auf dem weißen Grund ihres Kleides erinnerte ihn an einen erloschenen Lavastrom.
Allein ihre Anwesenheit
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