Das Luxemburg-Komplott
Tradition als die deutsche. Sie war von geringer Zahl und fast ohne Geschichte. Die meisten russischen Arbeiter konnten weder lesen noch schreiben. Die deutschen Arbeiter dagegen waren die größte Volksgruppe. Sie waren bildungshungrig, sozialdemokratisch erzogen und in mächtigen Gewerkschaften organisiert. Seit dem Fall der Sozialistengesetze 1890 kämpfte die deutsche Sozialdemokratie legal, wenn auch manche ihrer Vertreter bis zur Novemberrevolution immer wieder angefeindet und verfolgt wurden.
»Die Revolution in Russland begann mit einem Beschluss des ZK. Lenin plante sie wie einen militärischen Angriff. Die deutsche Revolution hat niemand geplant, sie ist das Ergebnis einer Empörung der Arbeiter über Eberts Verrat. Der hat sich zum Revolutionsführer gemacht, um die Revolution mit Hilfe von Söldnern der Reaktion zu ersticken. Hier gibt es kein ZK, das Befehle erteilt. Und die Revolution hat in Berlin und einigen Städten vielleicht vorläufig gesiegt, aber noch lange nicht im Reich. Wenn wir die Bolschewiki kopieren, werden wir untergehen. Liegt das im Interesse Sowjetrusslands?«
Bronski starrte ihn böse an. »Sie vergessen offenbar, dass Sie Funktionär der Tscheka sind. Sie missachten Befehle Dserschinskis und sogar Lenins. Sie glauben, Sie wüssten alles besser. Ich verlange, dass Sie Kontakt mit Friesland aufnehmen und Ihren Auftrag erledigen. Lenin sagt, es gibt nur zwei Wege in der Weltrevolution. Entweder die Arbeiterklasse folgt Luxemburg, dann wird sie verlieren. Oder sie folgt den Bolschewiki, dann wird sie siegen. Haben Sie das verstanden, Genosse Zacharias?«
Zacharias antwortete nicht. Wer bin ich? Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich habe so viele Menschen umgebracht, gewiss war es nötig. Geht das jetzt so weiter?
»Ich staune, dass ich Sie daran erinnern muss. Aber damit Sie nachher nicht sagen, Sie hätten es nicht gewusst: Der Arm der Tscheka reicht weit. Wer Befehlen nicht gehorcht, hilft dem Feind, ist ein Deserteur. Sie wissen, was man mit Deserteuren im Krieg macht, Genosse Zacharias?«
9
A
ls Bronski gegangen war, legte sich Zacharias aufs Bett und mühte sich, die Niedergeschlagenheit zu verdrängen. »Sie werden abgeholt«, hatte Bronski beim Abschied gesagt und: »Ich komme wieder.« Zacharias verstand es als Drohung.
Aber vielleicht hatte Bronski recht. Konnte sich die Revolution halten, wenn nicht ein Zentrum sie führte? Versuchten sie nicht gerade, einen Feind niederzuwerfen, ohne die eigenen Kräfte zu bündeln? Immerhin, Lenin hatte gesiegt, und er würde womöglich den Bürgerkrieg durchstehen. War es da nicht nötig, vom Sieger zu lernen? Und doch stieß ihn Bronski ab, dessen Argumente waren zu einfach. Die Wirklichkeit bot mehr Möglichkeiten als zwei: entweder Revolutionär oder Konterrevolutionär. War es möglich, die russische Revolution zu kritisieren und die deutsche zu machen? Rosa versuchte es. Er war auf dem besten Weg, sie zu verraten. Und wenn dieser Verrat die einzige Chance der deutschen Revolution war? Wenn Luxemburgs Theorien nicht stimmten? Die Massen machten die Revolution, die Partei hatte nicht zu befehlen, sondern aufzuklären?
Er schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Zacharias zwang sich zurück in seine Kindheit. Wie er in den Straßen spielte, mit wunden Knien nach Hause kam, um milde ausgeschimpft zu werden. Aber ein wenig später steckte ihm die Mutter etwas Süßes zu. Renate, die pausenlos redete und lachte. Der Vater, der sich in der Kneipe mit den Genossen traf, Karten spielte, aber selten Alkohol trank, weil es verpönt war, seine Geisteskraft zu schwächen.
Die Vergangenheit erschien ihm wie ein Märchen. Als er aufwuchs und begann, von etwas zu träumen, was Sozialismus sein sollte, hatte er nicht an diesen furchtbaren Winter gedacht, in dem die Kälte und der Hunger Menschen töteten und die Arbeiterklasse ihre Macht mit der Waffe verteidigen musste.
Er döste vor sich hin, bis es an der Wohnungstür klopfte. Die Mutter war offenbar zur Arbeit gegangen, so stand er auf und ging zur Tür. Davor wartete Sonja. Er stutzte, dann reimte er es sich zusammen. Sie wissen, was man mit Deserteuren macht, Genosse Zacharias. Er sah Bronskis finstere Miene vor sich. Vielleicht wird Sonja diejenige sein, die das Urteil an ihm vollstreckt.
»Ich hole dich ab«, sagte Sonja, als wäre es normal. »Der Genosse Friesland wartet schon.«
»Immer noch konspirativ«, sagte Zacharias. Er zwang sich zu lächeln.
»Die
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