Das Luzifer Evangelium
jüdisch-christliches Höllenbild aus einem Nekropol in einer babylonischen Höhle stammt. Und da wären wir!«
»Das erinnert aber gar nicht an die Hölle.«
»Natürlich nicht. Es hat Jahrtausende gedauert, um aus einem babylonischen Höhlengrab Satans flimmerndes Inferno zu machen.«
Ich sah mich um.
In der Hölle …
»Wie«, sagte CC , und dieses Mal klang in seiner Stimme wieder der Schalk mit, »fühlt es sich an, in der Hölle zu sein?«
Ich ließ meinen Blick über die spitzen Felsvorsprünge und Absätze schweifen und über die Berge von Skeletten, die steinfarbene Knochenhaufen bildeten.
Sollte dieser unterirdische Grabplatz, diese natürlich entstandene babylonische Katakombe, tatsächlich die Quelle der mittelalterlichen Höllenbilder sein?
Fehlten nur die Flammen. Und natürlich Satan. Luzifer, der Fürst der Finsternis, samt Beelzebub und all den anderen Dämonen. Und die Schreie der Abermillionen verlorener Seelen.
Mit offen stehendem Mund starrte ich in die Dunkelheit. Und dann begann ich zu lachen. Eine seltsame Reaktion. Immerhin war ich in der Hölle gelandet. Es fühlte sich aber alles so unwirklich an. So unfassbar. »Jeder Mensch trägt seine persönliche Hölle in sich«, schrieb der römische Autor Vergil. Ich selbst schleppe mich gleich an mehreren ab. Meine persönliche kleine Hölle. Sie wurde mit den Jahren nicht erträglicher. Nichts wird mit den Jahren erträglicher. Als meine Nerven um sich schlugen und sich verknoteten, gab es keinen Ort mehr, an dem ich Trost finden konnte. Nur das Dunkel und die Stille.
Wie hier.
In der Hölle.
Abrupt drehte ich mich um und lief die Steintreppe hoch.
»Bjørn?«, rief CC mir nach. Aber ich blieb erst stehen, als ich wieder oben in der großen Halle war. Ich rang nach Luft, wurde eins mit meinen Atemzügen, mit meiner Angst.
Als ich die Schritte der anderen auf der Treppe hörte, trat ich in die Schatten. Mit der Taschenlampe leuchtete ich in die dunkelsten Ecken und ging weiter und weiter in die Halle hinein. Der Boden war mit einer dicken Schicht Staub, Grus und Sand bedeckt. Gespannt blickte ich in jede Seitenkammer, an der ich vorbeikam.
Eine von ihnen – sie lag ganz in der Mitte – war von einem Steinbogen umrahmt. Ich verlangsamte meine Schritte und leuchtete in die Kammer.
Und blieb stehen.
Zuerst glaubte ich, ich sähe wegen der Schatten und dem Lichtstrahl der Taschenlampe nicht richtig. Dass meine Augen und mein Hirn mir einen Streich spielten.
Dann wurde mir voller Schrecken klar, was ich entdeckt hatte.
Taumelnd wich ich ein paar Meter zurück.
Ich hörte die Schritte der anderen, die sich von hinten näherten; das schleifende, knirschende Geräusch von Gummisohlen auf Grus, Sand und Steinstaub.
Nichts – nichts in all dem Wahnsinn, den ich in den letzten Monaten durchgemacht hatte – hatte mich auf das vorbereitet, was ich jetzt mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
ROM, MAI 1970
Als sie durch die engen Gassen von Trastevere fuhren, wurden die Wolken immer dichter, bald war der Himmel bedrohlich grauschwarz. Die Wolken sehen wie dreckige Baumwolle aus, dachte Giovanni. Sie überquerten den Tiber, fuhren durchs Zentrum und kamen auf die Ringstraße, aber noch öffneten sich die Schleusen des Himmels nicht. Dann bogen sie in Richtung Neapel ab. Bei San Cesareo machte die Polizei eine Geschwindigkeitskontrolle, sie wurden aber nicht angehalten. Es war nicht viel los. Giovanni, der eingeklemmt zwischen dem Primus Pilus und der Autotür saß, betrachtete den Hinterkopf des Fahrers und den roten Würfel, der baumelnd am Rückspiegel hing. Am Horizont zuckten die ersten Blitze. Giovanni dachte, dass das Wetterleuchten wie die Mündungsflammen großer Kanonen aussah. Dann hörte er den fernen, rollenden Donner. Nach ein paar Kilometern bogen sie auf eine Straße ab, die in einem Bogen zurück nach Rom führte. Sie überprüfen, ob uns jemand folgt, dachte Giovanni. Hohe Bäume säumten über einen Kilometer lang die kleine Straße. Giovanni stellte sich vor, dass diese Allee einmal zu einem Herrenhaus geführt hatte, das längst abgerissen worden war. Niemand im Auto sagte etwas. Sie fuhren an Bauernhöfen mit alten, verrosteten Traktoren und der einen oder anderen Pferdekutsche vorbei, die wie Hinterlassenschaften aus einer längst vergangenen Zeit aussahen. Giovanni dachte an Silvana. Er dachte an den Ägypter und an Dekan Rossi. Und an Luciana. Enrico. Er dachte daran, wie sein Leben im Laufe nur weniger Stunden
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