Das Luzifer Evangelium
er mit unsicheren Schritten ins Dunkel, um die Luftqualität mit einem tragbaren Messgerät zu analysieren. Er registrierte weder giftige Gase noch Bakterien in der eingeschlossenen Luft. Zur Sicherheit wurden zwei flexible Plastikröhren, die an zwei Gebläse gekoppelt waren, in das Innere des Fundaments gezogen, um kühle, frische Luft hineinzublasen.
3
Die Halle war viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Von der Tür aus führte eine Rampe vier, fünf Meter nach unten. Die Decke, auf der einmal der Überbau des Zikkurats gestanden hatte, wurde von vier massiven Säulenreihen getragen.
Auf den ersten Blick erschien die Halle enttäuschend leer, einem verwaisten Parkhaus gleich. Grau. Nackt. Ich hatte mir eine übervolle Schatzkammer vorgestellt. Gold, Statuen, Kisten voller funkelnder Edelsteine, vergoldete Götterfiguren und mythologische Reliefs.
Aber alles war grau und farblos.
Langsam gingen wir über die lang gezogene, breite Rampe nach unten. Unsere Schutzanzüge raschelten. Die Arbeiter, die vor uns hineingeschickt worden waren, hatten hohe Stative aufgebaut und darauf Scheinwerfer montiert. Vor dem Ende der Plastikröhren sahen wir Staub und Sand aufwirbeln. An den Wänden – teils verborgen durch die Schatten der Säulen – waren Erker und Seitenkammern zu erahnen. Obgleich die Scheinwerfer große Teile der Halle mit Flutlicht erhellten, mussten wir unsere Taschenlampen einschalten, um in die Seitenkammern sehen zu können. Vieles war mit Tüchern oder geflochtenen Matten abgedeckt und aus der Entfernung nicht richtig zu erkennen.
Am Ende der großen Halle fiel das Licht der Taschenlampen und Scheinwerfer auf ein steinernes Portal. Doch erst als wir näher kamen, erkannten wir, dass sich der kunstvoll zugehauene Bogen über eine Treppe wölbte, die weiter nach unten führte.
Zwei hohe Steinstatuen, die beide bedrohliche, dämonische Engel darstellten, bewachten die Treppe. Die Statuen waren drei, vier Meter hoch, dürr und knochig und beugten sich leicht nach vorn. Die Sockel, auf denen sie standen, waren voller Inschriften.
»Stopp!«, befahl CC und rief seine Chefpaläografin zu sich. Gemeinsam hockten sie sich vor die Steinsockel und leuchteten mit den Lampen auf die Inschriften.
»Akkadische Keilschrift«, stellte die Paläografin fest.
»Was steht da?«
»Ich brauche Zeit, um den ganzen Text zu übersetzen und zu deuten. Aber ganz oben steht …«, sie kniff die Augen zusammen, »… Irkalla … «
»Irkalla!«, wiederholte CC .
»… bewacht vom … Engel des Lichts.«
»Engel des Lichts … Luzifer«, sagte CC so leise, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte.
4
Aus der kohlrabenschwarzen Tiefe strömte ein kalter, feuchter Luftzug nach oben, der einen schwachen, süßlich abgestandenen Geruch mit sich brachte.
Die breite Steintreppe führte nach unten zu einem Steinplateau vor einer enormen Grotte, aus der wir einen unterirdischen Fluss hörten.
»Ein unterirdischer Arm des Euphrat«, sagte CC .
Der Teil der Höhle, den wir von dem Plateau aus einsehen konnten, fiel leicht ab. Sie musste mindestens hundert Meter tief und zwanzig bis dreißig Meter hoch sein. In der unterirdischen Halle erblickte ich ein paar spitze Felsformationen und Vorsprünge. Die Strahlen unserer Taschenlampen durchzuckten das Dunkel. In der feuchten Luft beschlug meine Brille, so dass ich nicht scharf sehen konnte.
»Mein Gott«, murmelte CC .
Ich richtete meine Taschenlampe auf die Formation, die CC anleuchtete, erkannte aber nicht, was ich da sah. Bäume? Versteinerte Zweige?
»Skelette!«, sagte CC .
Erst nachdem CC die Worte ausgesprochen hatte und meine Augen und mein Hirn die Eindrücke zu verarbeiten vermochten, registrierte ich sie.
Die Höhle war voller menschlicher Skelette.
Tausende von Skeletten.
Sie lagen auf dem Boden, auf den Steinen, in den Nischen, auf Plateaus und Absätzen. Einige lehnten an der Wand, andere waren zu Knochenhaufen zusammengefallen. Es waren so viele Skelette, das sie wie graue Steinformationen mit der Wand verschmolzen.
»Was ist das hier für ein Ort?«, flüsterte ich.
»Ob Sie es glauben oder nicht, Bjørn, aber jetzt befinden Sie sich in der Hölle.«
Ich sah ihn an. Er lachte nicht. Er erwiderte meinen Blick nicht.
»In der Hölle?«
»Erinnern Sie sich an das Dokument von Professor Giovanni Nobile über die unterschiedlichen Vorstellungen der Hölle, das ich Ihnen zu lesen gegeben habe? Er glaubte, beweisen zu können, dass unser
Weitere Kostenlose Bücher