Das Luzifer Evangelium
banalen Gründen, wie er fand – einem seltsamen Nebenschauplatz der Theologie verschrieben: der Dämonologie. Fremden gegenüber stellte er sich als Theologe vor, so blieb ihm besondere Aufmerksamkeit erspart. Doch wenn er ein seltenes Mal sein Fachgebiet verriet, reagierten die Menschen mit grenzenloser Neugier. Und Respekt.
Ein Bus rauschte nur wenige Zentimeter an ihm vorbei. Er schimpfte laut, doch sein Fluch wurde sogleich vom Lärm der Dieselmotoren und dem Sirenengeheul eines sich vorbeidrängelnden Polizeiwagens erstickt.
Die Dämonologie war die Wissenschaft von den Dämonen, eine orthodoxe und zeitweise umstrittene theologische Disziplin. Gab es Dämonen überhaupt? Und was war eigentlich ein Dämon? Ein böser Geist? Ein gefallener Engel? Die simpelste Erklärung, pflegte Giovanni zu sagen, sprach von übernatürlichen Wesen, die weder Götter noch Engel waren. Aber diese Definition war oberflächlich und wertlos. Die Hierarchie der Dämonen umfasste eine ganze Reihe von Gestalten – einige menschenähnlich und körperlich, andere hässliche Geisterwesen. Jahrelang hatte er neben seinen zeitaufwendigen Vorlesungen an einem Forschungsprojekt gearbeitet, das darauf abzielte, die Dämonen zu katalogisieren und ihnen ihre vielfältigen Namen, Eigenschaften und religiösen Abstammungen zuzuordnen. Über die Jahrhunderte waren diesbezüglich diverse Versuche unternommen und die Dämonen nach Typ, Charakter, Jahreszeit und Fähigkeiten klassifiziert worden, Giovanni aber meinte, es müsse möglich sein, all diese unterschiedlichen Eigenschaften in einem Katalog zusammenzufassen.
Es gab Kollegen, die sich von der Dämonologie provoziert sahen. Sie waren der Meinung, in Gottes Reich sei kein Raum für derart verdorbene Geisterwesen, und behaupteten, bei diesen Dämonen handele es sich lediglich um Metaphern und Ausdrücke für die vielfältigen Erscheinungsformen Satans. Die fundamentalistischen oder orthodoxen Christen waren hingegen fest von der Existenz der Dämonen überzeugt. Für sie waren es körperliche Geschöpfe in der Sphäre zwischen unserer physischen Wirklichkeit und dem Jenseits. Giovanni selbst war der Meinung, dass die Tauben auf den Straßen exemplarische Dämonen abgaben.
Vor der theologischen Fakultät kettete er den Vorderreifen seines Fahrrads an ein Heizölrohr, das sowohl der Hausmeister als auch die Ölversorger vergessen hatten. Studenten wie Professoren der Fakultät wussten, dass dies Giovannis persönlicher Fahrradparkplatz war. Auf dem Weg nach oben schloss er sich seinem Kollegen Roberto Faletti an, dem er bei einer Doktorarbeit über Satans Platz in der Theodizee geholfen hatte. Roberto hatte eine kontroverse Theorie zu der Frage entwickelt, ob das Leiden und das Böse in der Welt mit der Allmacht und der Güte Gottes vereinbar seien, und lag folglich in ständigem Streit mit seinen Betreuern wie auch dem Dekan und einigen streitsüchtigen Kardinälen im Vatikan.
Er ging in sein schrecklich beengtes Büro, in dem Bücher-und Papierstapel wie wackelige Stalagmiten in die Höhe wuchsen, und hängte seine Cordjacke auf. Dann zündete er sich die erste Pfeife des Tages an. Luciana und er hatten ein stillschweigendes Abkommen, dass sie ihn nicht bedrängte, mit dem Rauchen aufzuhören, solange er sich darauf beschränkte, es im Institut oder zu Hause in seinem Büro bei geschlossener Tür zu tun. Unten auf der Piazza della Pilotta flanierten die ersten Touristen des Jahres mit ihren Karten, Reiseführern und Fotoapparaten. Er inhalierte und hielt den Rauch in den Lungen. Zwei Touristen liefen durch eine Schar Tauben, die sich wie ein Reißverschluss öffnete und wieder schloss. Neben seiner Schreibmaschine lag der Stapel Zettel mit dem Entwurf für einen Artikel in der Harvard Theological Review über seine zehn Thesen bezüglich Satans Platz in der Dämonologie. Er überflog noch einmal die Abschnitte, an denen er gestern Nachmittag kurz vor Feierabend gearbeitet hatte:
Es scheint eine gewisse Unsicherheit, Verwirrung Uneinigkeit darüber zu herrschen, ob Satan, Luzifer und Beelzebub die gleiche Gestalt sind (mit abweichenden Namen und unterschiedlichen religiösen/mythologischen Ursprüngen) oder ob es sich um unterschiedliche Teufelswesen handelt. Die Antwort auf diese Frage hängt unter anderem davon ab, auf welche Quellen man sich bezieht. An dieser Stelle sollte ich daran erinnern, dass das Wort Satan , das Ankläger oder Widersacher bedeutet, lange als generische
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